Wirtschaft

Kurzschluss oder volle E-Power? "Streetscooter ist das Auto des Jahres"

Skandale, Gipfel, Milliardeninvestitionen, Unternehmensverkäufe, leere Versprechungen, Enttäuschungen und Überraschungen: Das Autojahr 2017 elektrisierte. "Es war fulminant", sagt Autoexperte Becker im ntv-Interview - und übt Kritik.

ntv.de: Herr Becker, ein ereignisreiches Jahr geht zu Ende, auch für die Automobilindustrie: Opel-Verkauf, Diesel-Skandal, Abgas-Gipfel, Chinas Elektromobilitätsoffensive, Tesla-Absturz ... Was waren für Sie die drei großen Themen für die Branche 2017?

Helmut Becker schreibt als Autoexperte und Volkswirt für teleboerse.de und n-tv.de eine monatliche Kolumne rund um den Automarkt.

Helmut Becker schreibt als Autoexperte und Volkswirt für teleboerse.de und n-tv.de eine monatliche Kolumne rund um den Automarkt.

Helmut Becker: Ganz klar das drohende Aus für den Verbrennungsmotor, das insbesondere als Damoklesschwert über der deutschen Automobilindustrie schwebt. Zudem auch die Rigorosität Chinas beim Thema Elektromobilität. Und das dritte große Thema, wenn man zur Abwechslung mal die Unternehmen betrachtet, ist der Wiederaufstieg des VW-Konzerns, insbesondere der Kernmarke Volkswagen.

Alle drei Themen hängen mit dem Dieselskandal zusammen. Da könnte man als drohenden Supergau für die Branche die möglichen Fahrverbote bezeichnen. Wie wahrscheinlich sind sie - vor allem in den anstehenden Wintermonaten?

Sie sind eine höchst latente Gefahr! Aber als rationaler Ökonom sollte man davon ausgehen, dass sie nicht kommen werden. Der Grund ist einfach: Der Einschnitt für die betroffene Autobranche, einzelne Unternehmen und die Gesellschaft gleichermaßen wäre zu groß. Ich vermute, dass es keiner wagen wird - auch nicht die Verwaltungsgerichte -, Knall auf Fall flächendeckende Fahrverbote im Zusammenhang mit punktuellen Verstößen gegen bestehende Emissionsgesetze zu verhängen. Die Gerichte müssen aber gute Gründe haben, warum sie Fristen einräumen sollen, eine Rechtsbeugung darf nicht im Raum stehen. Da ist die Politik und da sind die Unternehmen selber gefragt.

Politik, Kommunen und Autoindustrie sprechen miteinander. Die Kritik am Vorgehen der Hersteller bleibt. Nun deutet einiges auf eine Große Koalition hin. Was bedeutet das für die deutsche Autoindustrie?

Eine Große Koalition ist für die Autoindustrie sicher tolerabler, denn die Grünen als geborene Umwelt-Hardliner wären nicht mit im Boot. Die SPD als möglicher Partner der Union agiert bei Autothemen rationaler. Das Motto hieße dann: Lasst die Kirche im Dorf! Nicht falsch verstehen: Die Große Koalition wird sich einig sein, dass etwas getan werden muss, keine Frage. Aber sie wird nicht mit Hauruck-Aktionen die Autobranche gegen die Wand fahren!

Gleichzeitig fordert der Rechnungshof höhere Dieselsteuern. Was halten Sie davon?

Der Vorschlag ist nachvollziehbar und man könnte sich ihm anschließen. Der Umweltgesichtspunkt, der als Hauptbegründung für die Besserstellung von Diesel immer ins Feld geführt wurde, gilt ja nicht mehr in dem Maß wie früher.

Sie sprachen bereits den VW-Konzern an. Der hat bisher im Zug des Dieselskandals rund 26 Milliarden Dollar in den USA an Strafen und Entschädigungen gezahlt. Gleichzeitig kündigte er an, 70 Milliarden Euro bis 2022 investieren zu wollen, davon soll allein etwa die Hälfte in die Elektromobilität fließen. Ist das der richtige Schritt zur richtigen Zeit?

Es ist ein Ausrufezeichen für die gesamte Autoindustrie! Wenn der deutsche Leuchtturm der Branche, Weltmarktführer wohlgemerkt, solch hohe Investitionen ankündigt, bedeutet das zweierlei. Zum einen wird deutlich, dass der VW-Konzern trotz allem über unglaubliche finanzielle Ressourcen verfügt. Zum anderen ist das Setzen auf die Elektromobilität, wie immer diese auch aussehen wird, ein deutlicher Richtungsschwenk zu einer zweiten Antriebsquelle. Das lässt aufhorchen und ist ein deutliches Signal: Die Zukunft der Automobilindustrie liegt in der Elektromobilität.

Und in China ... Zehn Milliarden Euro sollen laut VW dorthin fließen. Die Regierung in Peking pusht mit einer Quote den Elektroantrieb. Wie sieht die Regelung genau aus und können die deutschen Hersteller sie schaffen?

Die Regelung heißt, dass zehn Prozent aller in China verkauften Neuwagen elektrisch angetrieben sein müssen. Rein elektrisch oder Hybrid, ist dabei egal. Die Quote soll zudem sukzessive steigen - und die deutschen Hersteller werden sie auch schaffen. Klare Aussage. BMW, Daimler, VW und Co. haben zweifelsohne das Potenzial dazu und genug E-Modelle, vor allem Hybride, mittlerweile in der Pipeline. Und: Was die Chinesen selber schaffen, schaffen die deutschen Hersteller auch, schließlich liegen fast drei Viertel aller globalen E-Patente bei der deutschen Industrie.

Die deutsche Autoindustrie sieht sich als Weltmarktführer. Wird sie diesem Anspruch auch bei der Elektromobilität gerecht?

Die deutschen Hersteller sind bereits E-Weltmarktführer, keine Frage! Weder die Amerikaner noch die Japaner noch die Koreaner können da mithalten. Die Branche ist mittlerweile elektrisiert. Alle sind auf den Elektroantriebs-Zug aufgesprungen. Das heißt aber noch nicht, dass der heute gewählte Weg des E- Antriebs über Lithium-Ionen-Batterien der sinnvollste ist.

Nun ist China der größte automobile Absatzmarkt, der zudem noch deutlich wächst. Gleichzeitig setzt die Regierung eben voll auf E-Mobilität. Erwächst den deutschen Herstellern dadurch im Reich der Mitte eine ernsthafte Konkurrenz?

Jein (lacht). Erfolgreiche chinesische Autohersteller sind bereits heute die Unternehmen, die in Joint Ventures mit westlichen Konzernen zusammenarbeiten. Daran dürfte sich auch mit der Elektromobilitäts-Offensive nichts ändern. Den erfolgreichen, rein chinesischen Hersteller ohne Fremdeinwirkung "von außen" gibt es (noch) nicht!

Neuerdings darf auch Opel auf dem chinesischen Markt tätig werden. Der Grund: Die bisherige GM-Tochter gehört nun zum PSA-Konzern. War der Verkauf nach Frankreich der richtige Schritt?

Soll dürfen - noch ist Opel nicht da! Aber: Der Verkauf an PSA ist für Opel ein Segen. Opel stand und steht immer noch mit dem Rücken zur Wand. GM hätte das Unternehmen in naher Zukunft entweder plattgemacht oder an einen Käufer aus China verhökert. Der wiederum hätte die Werke hierzulande - wegen des schwierigen, weil gesättigten europäischen Marktes - wohl geschlossen und nur den Markennamen behalten. Durch PSA hat Opel erstmals seit langer Zeit wieder eine Chance zu überleben und sein Schicksal selbst in der Hand - zum Leidwesen vor allem der übrigen europäischen, aber auch der japanischen und südkoreanischen Autobauer. Denen erwächst mit einem sanierten Autohersteller Opel ein neuer Konkurrent in einem ohnehin hart umkämpften Markt.

Apropos Sanierung: Opel soll mit vier Kernmaßnahmen schnell fit für die Gewinnzone gemacht werden. Wird das gelingen?

Ja, mit "pace" (lacht). Die internen Voraussetzungen sind nach der Übernahme da, die Chancen gegeben. Der Wille in der Belegschaft ist da, das ist das Wichtigste. Die Mitarbeiter, inklusive Management, müssen wollen, auch wenn eine harte Wegstrecke vor ihnen liegt. Nur Leistung sichert Arbeitsplätze, so PSA-Chef-Tavares. Es wird Einkommenseinbußen geben, wohl auch Jobverluste, aber am Ende steht dann ein gesundes Unternehmen. Allerdings auch zulasten der Zulieferer. Die von Tavares geforderte Kostensenkung bedeutet pro Auto eine Einsparung von rund 1000 Euro. Die wird fast nahtlos bei den Zulieferern landen.

Ein Kernthema heißt auch bei Opel: Elektromobilität. Hat diese 2017 generell den Durchbruch erreicht?

Ja, das muss man sagen, der Turnaround ist da! 2017 ist das Jahr der Elektromobilität in der Autoindustrie gewesen. Das zeigen die geplanten massiven Investitionen aller deutscher Hersteller und Zulieferer in diesem Bereich. An der Elektromobilität als zusätzlichem Antrieb führt kein Weg mehr vorbei!

Elektroauto-Pionier Tesla wollte 2017 mit seinem Massenmodell 3 durchstarten. Das gelang bislang nicht: Produktionsschwierigkeiten, Verzögerungen, Entlassungen. Hat Tesla den Zenit erreicht?

Sie irren: Tesla hat den Zenit nicht erreicht, Tesla hat ihn bereits überschritten! Tesla verbrennt derzeit pro Stunde 500.000 Dollar. Kapital vernichtet hat das Unternehmen seit Gründung 2003 zwar immer, aber noch nie so kunstfertig. Unternehmensgründer Elon Musk kommt zwar immer wieder mit neuen Gimmicks - wie jetzt dem E-Lkw - um die Ecke, um die Aktionäre bei Laune zu halten. Meiner Meinung sind das aber nur Nebelkerzen, um von den eigentlichen Problemen abzulenken. Irgendwann in naher Zukunft wird das nicht mehr funktionieren. Die Situation von Tesla wird sich weiter zuspitzen!

Nicht nur Tesla präsentierte sich 2017. Es gab auch anderweitig zahlreiche Facelifts und Neuvorstellungen. Welches Fahrzeug, welches Modell hat Sie besonders beeindruckt?

Das ist schwer zu sagen. Eine richtige Neuerung im klassischen Sinn gab es nicht. Klar, dass Daimler für den US-Markt mit einem Pick-up um die Ecke kommt, macht was her: Premium-Pritsche sozusagen (lacht). Richtige Innovationen im klassischen Automobilbereich blieben aus, nur Exoten oder Gimmicks aus dem Elektronikbereich. Das Automobil mutierte weiter zum fahrenden Computer.

Also gibt es für Sie kein "Auto des Jahres 2017"?

Doch, den Streetscooter! In Eigeninitiative an der RWTH Aachen für die Post entwickelt und gebaut, ist das mein Auto des Jahres. Die Produktion von derzeit 10.000 Stück soll sich durch Kooperationen etwa mit Ford 2018 verdoppeln. Die Nachfrage ist noch höher, auch im gewerblichen Bereich. Den Ökonomen freut's: die Innovationen kommen aus einer ganz anderen Ecke, nicht aus der Branche selber!

Wie sieht es bei den Absatzmärkten aus: Wie haben sich Deutschland und Europa im internationalen Vergleich geschlagen?

Deutschland und Europa haben sich, wie zu Jahresbeginn bereits vorhergesagt, überraschend positiv entwickelt - wohlgemerkt trotz Dieselkrise. Der Grund ist nach wie vor der aus der Finanzkrise resultierende Nachholbedarf plus Migrationsgewinnen. Ebenfalls wie erwartet, aber negativ entwickelt, hat sich der britische Absatzmarkt. Der Brexit schlägt hier ins Kontor.

Wie steht es um Amerika und darüber hinaus die Schwellenländer?

Der US-Absatzmarkt hat seinen Höhepunkt bereits 2016 erreicht und überschritten. Dieser Trend hat sich 2017 bestätigt. Die Verkäufe gehen leicht zurück. Rumdümpeln auf hohem Niveau sozusagen. Bei den Schwellenländern sieht das wiederum anders aus: Sie zeigten eine deutliche Erholung in diesem Jahr, vor allem Russland und Brasilien. Das verwundert aber auch nicht, denn diese Märkte waren teilweise um bis zu 50 Prozent eingebrochen: ein Turnaround von niedrigem Niveau aus.

Und Weltmarktführer China?

Chinas Autoabsatz expandiert ungebrochen und ist mit rund 28 Millionen Neuzulassungen inzwischen fast doppelt so groß wie Europa. Jedes dritte Fahrzeug aus deutscher Produktion wird inzwischen in China verkauft, 2010 war es jedes Fünfte.

Alles in allem heißt das dann auch für den automobilen Weltmarkt einen Zuwachs 2017?

Absolut. 2017 hat der Weltmarkt mit über 85 Millionen Einheiten einen neuen Absatzrekord aufgestellt. Kurz: Die Welt will Autos fahren. Und die deutschen Hersteller tragen daran einen Hauptanteil: Deren Produktion beträgt rund 16,8 Millionen Fahrzeuge.

Und zum Abschluss: Wie lautet Ihr Fazit für das Autojahr 2017?

2017 war für die Welt-Autoindustrie ein weiteres fulminantes Jahr, für die deutschen Hersteller ein Boomjahr: Vollauslastung der Werke, steigende Gewinnmargen, zunehmende Erlöse. Somit lässt sich nur folgendes Fazit ziehen: Das Autojahr 2017 war das Beste, was wir bisher in den letzten Jahrzehnten hatten. Aber Sie wissen selber: Nichts bleibt, wie es war.

Mit Helmut Becker sprach Thomas Badtke

Quelle: ntv.de

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