Wirtschaft

Chronische Verstopfungen Leben ohne Stau? Die Politik ist zu feige

Bessere Luft, weniger Staus: Das wollen alle. Aber wie ist das erreichbar? Mehr Carsharing? Kostenloser ÖPNV? Giftmaut? Fahrverbote? Forderungen und Modelle gibt es einige. Nur muss sie jemand auch durchsetzen.

Von Loriot stammt der berühmte Ausspruch "Ein Leben ohne Möpse ist möglich, aber sinnlos". Gleiches lässt sich sinngemäß auch für die täglichen Staus auf unseren Straßen sagen: "Ein Leben ohne Staus ist möglich, aber (die Hoffnung darauf) sinnlos." Warum ist das so?

Weil die (Verkehrs)-Politik das knappe Gut Straße und abgasfreie Luft nicht ökonomischen Marktgesetzen unterwirft, sondern aus sozialen und industriepolitischen Gründen nur nach dem Motto agiert: "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!" Im Klartext: Die Politik laviert sich mit halbherzigen Überlegungen durch und ist für harte marktwirtschaftliche Entscheidungen offensichtlich zu feige.

Paradox Gratisfahrten

Helmut Becker schreibt für teleboerse.de und n-tv.de eine monatliche Kolumne rund um den Automarkt. Er leitet das IWK-München, das Unternehmen in automobilspezifischen Fragen berät.

Helmut Becker schreibt für teleboerse.de und n-tv.de eine monatliche Kolumne rund um den Automarkt. Er leitet das IWK-München, das Unternehmen in automobilspezifischen Fragen berät.

Was ist das Ziel? Angestrebt werden bessere Luft und weniger Staus, machbar nur durch eine rigorose Verringerung der Anzahl von Privatautos und -fahrten in Innenstädte. So weit, so gut. Weil das aber den Wählern/Bürgern weh tun würde, sucht man nach der schmerzfreien "weißen Salbe". Folge: Es kommt zu allerlei ökonomischen und verkehrspolitischen Kuriositäten - wie beispielsweise dem Vorschlag eines für Nutzer kostenlosen öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) oder der Idee der Bereitstellung von öffentlichen Finanzmitteln, die gerade mal zur Anschaffung von 400 Elektrobussen für die deutschen Großstädte reicht.  

Ergebnis: Die Luft wird dadurch nicht nachhaltig besser, die innerstädtische Dauerstauproblematik noch nicht einmal ansatzweise gemildert, geschweige gelöst. Im Gegenteil: Gratisfahrten erzeugen nur mehr innerstädtischen Verkehr, auch auf der Straße.

Zur Klarstellung: Wenn hier von Verkehrsstaus die Rede ist, sind nicht die unvorhersehbaren und unausweichlichen Staubildungen als Folge von Verkehrsunfällen, beschrankten Bahnübergänge, plötzlichen Straßensperren et cetera gemeint. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Gemeint sind hier vielmehr die alltäglichen Verkehrsstaus in den Rushhours und zu normalen Zeiten in der Stadt. Dagegen wäre heute ein Kraut gewachsen. Zudem: Thema hier ist der Stau, nicht die Luftverschmutzung, auch wenn beides eng verzahnt ist.

Stauland Deutschland

Zunächst zum Befund: Deutschland ist Stauland! Autobahnen, Bundesstraßen und Innenstadtstraßen sind chronisch verstopft. Das belastet vor allem in Ballungszentren die Luftqualität und führt in Summe zu hohen volkswirtschaftlichen Kosten von fast 100 Milliarden Euro pro Jahr. (So genau weiß das niemand, da man den Schaden nicht kennt, den diejenigen angerichtet hätten, wenn sie statt im Autostau am Schreibtisch gesessen hätten).  

Laut ADAC-Stau-Bericht hat sich in Deutschland 2017 der Straßenverkehr täglich auf 4000 Kilometer gestaut, eine Zunahme gegenüber 2016 um fünf Prozent. Nach neuesten Studien haben deutsche Autofahrer 2017 im Durchschnitt 30 Stunden im Stau verbracht, in München - der heimlichen Stauhauptstadt Deutschlands - sogar 51 Stunden (vier Stunden mehr als 2016). Gleichzeitig hat in den Hauptverkehrszeiten die Fahrgeschwindigkeit in der Urbanität immer häufiger auf nur acht Kilometer pro Stunde abgenommen. Sportliche Fußgänger sind fast ebenso schnell.

Das "knappe Gut" Straße

Obwohl Staus auf dem Weg zur Arbeit tagtäglich "erfahrbar" sind, wirkt die Politik hilflos, sind wirksame Lösungsvorschläge selten. Das "knappe Gut" Straße lässt sich nicht ohne Weiteres "vermehren". Für einen bedarfsgerechten Ausbau der Straßeninfrastruktur fehlt es an allem: an Geld, an der notwendigen behördlichen Ausbaugeschwindigkeit, an Baukapazitäten, und vor allem: an Platz - sprich "Benutzeroberfläche".

Und selbst da, wo nicht nur Ausbau, sondern ein echter Straßenneubau erfolgt ist, erwies sich das sehr rasch als ein Schuss in den Ofen. Die Erfahrungen lehren, dass jeder Straßenneubau alsbald neuen und zusätzlichen Verkehr an und nach sich zieht: Vormalige ÖPNV-Pendler steigen aufs Auto um, Urlauberströme und der Lkw-Verkehr nutzen die besseren und zunächst rascheren Verbindungen. Kurz: Neu gebaute Straßen sind nach kurzer Zeit wieder genauso verstopft wie die alten. Die BAB-Umfahrungen von München - erst im Osten, dann im Norden - liefern hierfür anschauliche Beispiele. Auch moderne Verkehrsleitsysteme schaffen nur oberflächlich Abhilfe, helfen nur temporär und nicht dauerhaft - solange das Verkehrsaufkommen und die Anzahl der Autos weiter wachsen.

Carsharing als Irrweg statt Lösungsansatz

Wenn also all das keine geeigneten Mittel zu Staubekämpfung sind, hilft nur eine brachiale Verringerung der Anzahl von Automobilen oder deren Nutzung. Angepriesen, vor allem von den Automobilherstellern selbst, werden Carsharing und die Nutzung von Mitfahrdiensten wie Uber und Lyft. Beides aber ist falsch.

Die Anbieter von Carsharingflotten haben vor allem das Ziel vor Augen, den Absatz ihrer eigenen Marken und den Verkauf von gefahrenen Kilometer zu maximieren. Das bedeutet im Ergebnis mehr Verkehr und ein höheres Verkehrsaufkommen in der Urbanität, nicht eine Abnahme und letztlich eine Verschlimmerung der Situation.

Das Gleiche gilt für die Anbieter von Mitfahrgelegenheiten über Smartphones und Apps. London zum Beispiel hat ermittelt, dass die vielen billigen Taxi-Rivalen auf seinen Straßen mit ein Grund dafür sind, dass die Metropole den Dauerstau im Zentrum nicht in den Griff bekommt. Entweder wird dadurch zusätzlicher Autoverkehr generiert, den es vorher nicht gegeben hätte, oder es wird Verkehr von der bestehenden Taxi-Flotte abgezogen, ohne dass deren Anzahl abnimmt, im Gegenteil der Kunden-Suchverkehr nimmt zu. Oder es wird Verkehr vom ÖPNV abgezogen und auf private Fahranbieter umgelenkt. Folge: Verkehr nimmt zu, Staus und Luftbelastung ebenso. Die betriebswirtschaftliche Rentabilität der Taxi-Flotten sinkt, die volkswirtschaftlichen Kosten nehmen zu.

Pervertierter Onlinehandel und ökonomischer Unsinn

Ein weiteres Problem ist der Boom des Onlinehandels durch Amazon & Co. und die explosionsartige Zunahme des Lieferverkehrs in den Innenstädten. In vielen Metropolen kaufen viele Menschen im Internet ein und lassen sich die Waren ins Büro liefern, weil sie tagsüber zu Hause nicht erreichbar sind. Dieser Absatzkanal wird dadurch pervertiert: Erst werden die Waren tagsüber ins Zentrum geliefert, abends werden sie dann nach Feierabend wieder raus nach Hause transportiert. Der Ökonom schüttelt sein ergrautes Haupt. All das verschlimmert die Stausituation und die Luftqualität im städtischen Bereich und gehört von daher als Sofortmaßnahme behördlich untersagt.

Auch ein mögliches Angebot eines unentgeltlichen (nicht kostenlosen!) ÖPNV erweist sich bei näherem Hinsehen als ökonomischer Unsinn. Die bereits heute überfüllten Busse und Bahnen würden bei kostenloser Nutzung von allerlei Zusatznutzern frequentiert, die zuvor - ohnehin ohne Auto - das Fahrgeld gescheut hatten. Autofahrer hingegen würden mitnichten auf ihr eigenes Auto verzichten, getreu der Lebenserfahrung: Was nichts kostet, taugt auch nichts. Zum anderen sind die öffentlichen Verkehrsbetriebe bereits heute überausgelastet. Eine Ausweitung der Infrastruktur nach Aussagen vieler städtischer Verkehrsbetriebe just in time ist daher völlig unmöglich.

Problem: autonomes Fahren

Was lehrt uns das? Die einfache ökonomische Wahrheit ist: Solange die Nutzung von knappem Straßenraum vor allem im innerstädtischen Bereich gratis ist und keinen knappheitsgerechten Preis bekommt, ist die Nachfrage immer größer als das Angebot. Carsharing und Mitfahrdienste verschärfen die Situation, ein kostenloser ÖPNV wird daran nichts Nachhaltiges ändern.

Auch autonomes Fahren, von Gutgläubigen (besser: Unkundigen) vielfach als Allheilmittel gegen Unfälle und Staus gepriesen, hilft nichts, solange sich die Anzahl der Autos im Stadtgebiet dadurch nicht verringert. Allerdings würde die Luftverschmutzung abnehmen, wenn die autonomen Autos elektrisch betrieben würden.

Vier Lösungsansätze

Was also hilft gegen Staus (und Luftverschmutzung)? Gegen beides hilft nur, dass man die Anzahl der Autos und/oder deren Nutzung innerhalb der Urbanität drastisch verringert. Und das geht in einem marktwirtschaftlichen System wie dem unseren nur über den Preis. Dafür gibt es, in sozialen Abstufungen, mehrere Modelle.

1. Modell Singapur: Die Anzahl zugelassener Autos im Stadtgebiet wird absolut gedeckelt, mehr als eine Höchstzahl gibt es nicht. Bestandserneuerung ist nur mit aberwitzigen Zulassungsgebühren möglich. Dieses Modell ist nur für abgekapselte Stadtstaaten möglich, Pendlerverkehr existiert nicht.

2. Modell Deutsche Umwelt-Hilfe (DUH): Drastische Reduzierung des Stadtautoverkehrs durch behördliche Stilllegung von residenziellen Alt-Fahrzeugen und Pendler-Einfahrtverboten nach Emissionskriterien (Blaue Plakette). Dieses Modell hätte auf Anhieb und über mehrere Jahre eine drastische Stauverminderung zur Folge. Jedenfalls so lange, bis der Altbestand an "Dreckschleudern" durch umweltfreundliche Neufahrzeuge ersetzt ist; danach wäre die Luftqualität zwar besser, die Stauproblematik wäre aber die alte.

3. Modell London: Giftmaut für die City. Neben der ohnehin fälligen Einfahrmaut nach London (11,50 Pfund, elektronisch überwacht durch Siemens-System) wird ab Oktober 2017 eine Toxicity Charge von 10 Pfund pro Tag für alle Autos unterhalb der Euro-4-Norm erhoben. Die steigt ab April auf 12,50 Pfund pro Tag 2019 für Pkw und 100 Pfund für Lkw und Busse, die nicht den dann gültigen Abgasnormen entsprechen. Verteuert und verringert die Zufahrt; das mildert die Stauproblematik, löst das Problem aber nicht nachhaltig.

4. Modell Peak Load Pricing: In der ökonomischen Theorie ist dieses Steuerungsmodell zur Entzerrung von Verkehrsströmen bereits seit den 1950ern bekannt, allerdings ist seine Umsetzung erst heute mit den jüngsten Fortschritten in der automobilen Vernetzungs- und Kommunikationstechnik machbar. Alternativ zur festen Einfahrmaut werden analog zur Lkw-Maut elektronisch erfasste und gesteuerte Straßennutzungsgebühren je nach Fahrzeuggröße, Schadstoffklasse und Nutzungszeiten erhoben und dem Fahrer laufend übermittelt. Er hat also die freie Wahl, ob ihm die Stadtzufahrt das Geld wert ist oder nicht. In hochfrequenten Verkehrs-Stoßzeiten und bei Alt-Autos werden die höchsten Gebühren, in verkehrsarmen Zeiten bei abgasfreien Autos entsprechend niedrigere Gebühren fällig. Und automatisch vom Bankkonto abgebucht.

Dieses Modell einer effizienten Verkehrssteuerung ist erst durch die moderne Kommunikationstechnologie umsetzbar geworden. Die Steuerung des Verkehrsaufkommens über den Preis ist Marktwirtschaft pur, ohne Rücksicht auf politische oder soziale Aspekte. Es ist die einzige wirksame und ökonomisch sinnvolle Maßnahme sowohl zu Vermeidung von Staus wie zur Verbesserung der Luftqualität in den Städten.

Das Rezept ist da, was fehlt ist der Mut der Politik zu unpopulären Maßnahmen. Für lau ist das System nicht, es belastet alle: die Fahrt-Unternehmer mit hohen Nutzungsgebühren, die Fahrt-Unterlasser mit Zwang, sich preiswerte Transportalternativen zu suchen. Politischer Ärger ist damit programmiert. Doch die Zeit und der Problemdruck arbeiten für die Ökonomen, politische Kalküle können auf Dauer effiziente marktwirtschaftliche Lösungen nicht verhindern … nur Geduld!

Quelle: ntv.de

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