Wirtschaft

"Mutter und Vater allen Übels" Warum Erdogan Zinsen hasst

Hält wenig von Zinsen: Recep Tayyip Erdogan.

Hält wenig von Zinsen: Recep Tayyip Erdogan.

(Foto: REUTERS)

Wie soll eine Zentralbank auf Währungsverfall und hohe Inflation reagieren? Das beliebteste Mittel sind höhere Zinsen. Doch in der Türkei schrecken die Notenbanker davor zurück. Der Grund? Präsident Erdogan.

Autokratien und Wirtschaft, das geht in der Regel schief. Auf jedes Singapur kommen mindestens ein Venezuela, ein Simbabwe und eine Türkei. Deren Präsident hat sein Land in eine veritable Währungskrise geführt. Das liegt auch daran, dass Recep Tayyip Erdogan Zinsen ganz offensichtlich in tiefer Abneigung verbunden ist.

In Zahlen ausgedrückt: Die türkische Lira hat in diesem Jahr zum Dollar fast 40 Prozent an Wert verloren. Verschärft wird der Absturz durch den Streit mit US-Präsident Donald Trump um den in der Türkei unter Hausarrest stehenden Pastor Andrew Brunson. Allein am vergangenen Freitag war die Lira rund 16 Prozent gefallen. Die Inflation liegt derweil bei mehr als 15 Prozent.

Klassischerweise wäre es jetzt an der Zentralbank, den Leitzins - das ist der Zins, für den sich Geschäftsbanken bei der Zentralbank Geld leihen können - deutlich anzuheben. Derzeit beträgt der Schlüsselzinssatz 17,75 Prozent, doch das ist offensichtlich nicht hoch genug, um Währungsverfall und Inflation entgegenzutreten.

Höhere Zinsen wirken tendenziell preisdämpfend, weil sie Kredite verteuern. Zudem lohnt sich Sparen mehr. Das heißt: Unternehmen investieren weniger, Verbraucher konsumieren weniger. Dadurch sinkt die Nachfrage nach Produkten - und das macht Preiserhöhungen schwieriger. Zudem machen höhere Zinsen es für Investoren attraktiver, Geld in der Türkei anzulegen. Das führt dazu, dass - wegen der höheren Nachfrage - die Lira steigt. Und eine stärkere Währung wirkt wiederum inflationshemmend. Denn im Ausland gekaufte und in die Türkei eingeführte Güter werden damit billiger.

Erdogan sieht "Zinslobby" am Werk

So weit die klassische Lehre. Doch die Notenbank schreckt vor Zinserhöhungen zurück. Das liegt daran, dass die Zentralbanker den Zorn des Präsidenten fürchten. Der hatte ihnen angedroht, sie an die kurze Leine zu legen. Außerdem installierte Erdogan seinen Schwiegersohn Berat Albayrak als Finanzminister. Der Präsident macht für die Probleme einen vom Ausland angezettelten "Wirtschaftskrieg" und eine ominöse türkeifeindliche "Zinslobby" verantwortlich. Erdogan ist ein selbsterklärter Feind von Zinsen.

Das mag teilweise an seinem Glauben liegen, schließlich kennt der Islam wie das Christentum ein Zinsverbot. Doch in erster Linie dürfte seine Abneigung daher rühren, dass er das Wirtschaftswachstum der Türkei auf Pump finanziert hat. Stolze 7,4 Prozent hat das Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr zugelegt. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass im Vergleichs- und Putsch-Jahr 2016 die Wirtschaft mit 2,9 Prozent für ein Schwellenland sehr schwach gewachsen war. Außerdem ist der Boom teuer erkauft. Ein Großteil des Wachstums geht auf üppige staatliche Investitionen in die Infrastruktur zurück. Zudem stützt die Regierung den Konsum mit Subventionen.

Das sichert Erdogan seinen Rückhalt in weiten Teilen der Bevölkerung. Der Präsident neigt nicht nur zu Autokratismus, sondern will mit günstigen Krediten die Konjunktur am Laufen halten. Hinzu kommt, dass die hohe Arbeitslosigkeit in der Türkei gegen eine Zinserhöhung spricht. Die Quote liegt bei knapp zehn Prozent. Und zwar trotz des zuletzt starken Wirtschaftswachstums. Das allein sind für - die nominell unabhängigen - Zentralbanker schlagende Argumente, eine Zinserhöhung wenn irgend möglich zu vermeiden.

Versagt die Lehre?

Hinzu kommt: Erdogan sieht in Zinsen nicht nur "Mutter und Vater allen Übels". Aus seiner Sicht sorgen hohe Zinsen für hohe Inflation und niedrige Zinsen für niedrige Inflation. Damit stellt der Präsident die ökonomische Lehre auf den Kopf.

Die einen nennen das "unorthodox", die anderen "bizarr". Unabhängig davon, wie man dazu steht: Es gibt tatsächlich einen volkswirtschaftlichen Ansatz, auf den sich Erdogan stützen kann. Diese Idee heißt "Neo-Fisherismus" und geht auf den US-Ökonomen Irving Fisher zurück. Die Grundlage für seine Wiederentdeckung: Obwohl sowohl die Europäische Zentralbank als auch die US-Notenbank Fed angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise massenhaft billiges Geld zur Verfügung stellten, zog die Inflation nicht so richtig an. Ein anderes Beispiel ist Japan, das sich trotz lockerer Geldpolitik seit Jahren an der Schwelle zur Deflation befindet.

Die entscheidende Frage ist: Versagt die geldpolitische Lehre grundsätzlich oder handelt es sich um eine Ausnahmesituation? Eine Erklärung für das Phänomen könnte sein, dass die von den Zentralbanken zur Verfügung gestellte Liquidität von den Banken nicht ausreichend in Form von Krediten an Unternehmen und Verbraucher weitergereicht wird, sondern stattdessen in Immobilien und Aktien gesteckt wird. Das heißt: Es kommt zwar zur Inflation - sie findet jedoch bei den Vermögenspreisen statt, die für die klassische Berechnung von Inflation nicht herangezogen werden.

Mit Blick auf die Türkei dürfen sich derzeit jedenfalls die Traditionalisten bestärkt sehen. Sobald die Notenbank in Sachen Zinserhöhungen zaudert, verliert die Lira an Wert und heizt so tendenziell die Inflation an. Und sobald Investoren mit höherer Inflation rechnen, stoßen sie in Lira dotierte Anlagen ab. Das beschleunigt die Abwertung der Währung zusätzlich. Die schwächere Währung wiederum sorgt unter anderem für teurere Importe und befeuert so die Inflation.

Es sieht ganz danach aus, als sei es derzeit kein günstiger Zeitpunkt, in der Türkei die ökonomische Orthodoxie auf den Prüfstand zu stellen.

Quelle: ntv.de

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