Wirtschaft

Dirk Müller im Interview "Die USA haben eine Fackel geschleudert"

Dirk Müller war fast zehn Jahre als Makler an der Frankfurter Börse aktiv. Der Gesichtsausdruck von "Mr. Dax"  wurde zum Symbol für die Stimmung am Aktienmarkt. 2009 gründete Müller eine Finanzinformationsplattform, 2015 startete er einen eigenen Aktienfonds.

Dirk Müller war fast zehn Jahre als Makler an der Frankfurter Börse aktiv. Der Gesichtsausdruck von "Mr. Dax"  wurde zum Symbol für die Stimmung am Aktienmarkt. 2009 gründete Müller eine Finanzinformationsplattform, 2015 startete er einen eigenen Aktienfonds.

(Foto: Marvin Stroeter)

Heute vor zehn Jahren brach die US-Bank Lehman Brothers zusammen. Das Finanzsystem stand am Abgrund. Im Interview mit n-tv.de erinnert sich Dirk "Mr. Dax" Müller an den folgenschweren Tag und erklärt, von wo heute eine viel größere Gefahr ausgeht.

n-tv.de: Der 15. September 2008 in New York war ein wunderbarer Spätsommertag - mit einem Schönheitsfehler. Die Investmentbank Lehman Brothers brach zusammen. Sie waren damals Börsenmakler in Frankfurt. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Dirk Müller: Für uns, die wir im Alltagsgeschäft damit vertraut waren, war das keine besonders große Überraschung. Die Pleite hatte sich angekündigt. Es hatte zuvor ja diverse Notmaßnahmen gegeben, um Lehman am Leben zu halten. Für mich war klar, dass dieser Kollaps enorme Auswirkungen haben wird.

Also ein ganz normaler Arbeitstag?

Auf gar keinen Fall. Selbst wenn man Dinge vorausahnt und sich Ereignisse ausmalt, ist es doch etwas ganz anderes, wenn sie plötzlich passieren. Wenn man mittendrin steht, das Geschrei anderer hört, voller Adrenalin ist und sich die Meldungen überschlagen, dann ist man wie in einer anderen Welt.

Und die Welt veränderte sich durch den Zusammenbruch tatsächlich …

Ja. Viele hatten nicht damit gerechnet, dass die US-Regierung Lehman pleitegehen lassen würde. Als das aber passierte, war klar: Jetzt ist ein Dominostein gefallen, das wird eine Kettenreaktion mit gewaltigen Konsequenzen auslösen, die wir nicht abschätzen können.

Hätte Lehman Brothers also gerettet werden müssen?

Man hätte es zumindest problemlos machen können, wenn man es denn gewollt hätte. Es ging am Ende wohl um sechs Milliarden Dollar. Im Vergleich dazu, was die Krise danach kostete, ist das eine lächerlich kleine Summe. Man hätte schon viel früher kleinere Banken pleitegehen und die Reinigungskräfte des Marktes wirken lassen müssen, um nicht erst mit einer Hausnummer wie Lehman ein Exempel zu statuieren. Da spielte sehr viel Politik mit hinein.

Inwiefern?

Der US-Finanzminister hieß Henry Paulson. Er war vorher Chef von Goldman Sachs und ein Erzfeind des damaligen Chefs von Lehman Brothers, Richard Fuld. Das hat mit Sicherheit eine Rolle gespielt. Ebenso wie die Machtkämpfe zwischen den großen Wall-Street-Banken. Es greift zu kurz, bei der Ursachenforschung nur nach rein wirtschaftlichen Gründen zu suchen.

Auch für Deutschland hatte die Pleite spürbare Folgen. Was war hierzulande schiefgelaufen?

Im Grunde war schon vor der Lehman-Pleite eine Brandfackel aus den USA in Richtung Europa geschleudert worden. Und die sorgte nun für einen Flächenbrand. Denn die deutschen Banken waren zuvor naiv genug gewesen, diesen Wahnsinn der Verbriefung von US-Immobilienkrediten mitzumachen. Entweder wussten sie nicht, was sie taten. Oder sie hofften, das alles werde schon irgendwie gutgehen. Das war ein fürchterlicher Fehler, der in Europa zu riesigen Verwerfungen bis hin zur Euro-Krise geführt hat.

Die Folgen der Finanzkrise sind in Europa noch immer zu spüren - etwa die hohe Arbeitslosigkeit in vielen Ländern der Eurozone und die ultra-lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Gibt es auch Gewinner der Krise?

Die großen Geldhäuser in den USA zum Beispiel. Sie sind heute mächtiger denn je. Damals wurde zwar angekündigt, als Lehre aus der Krise den Einfluss der Banken zurückzudrängen. Doch daraus wurde nichts. Im Gegenteil. Und das, was an Regulierung zusätzlich kam, wurde von der jetzigen US-Regierung zurückgedreht. In der Finanzkrise wurde viel Geld umverteilt. So wie meistens ging es dabei von unten nach oben.

Finanzminister Olaf Scholz hat sich kürzlich für stärkere Banken ausgesprochen und eine Industriepolitik für Banken angekündigt. Wie bewerten Sie das?

Das ist völliger Wahnsinn. Auch der ehemalige Deutsche-Bank-Chef Joe Ackermann hat jüngst gefordert, es müsse größere europäische Banken geben. Doch in der Finanzkrise waren eben gerade die großen Banken das Problem. Die Lösung kann also nicht sein, noch größere Banken zu schaffen. Wir sollten aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und kleinere Einheiten anstreben. Die Banken sollten so klein sein, dass eine Pleite nicht das gesamte Finanzsystem bedroht. Die Finanzinstitute sollten Dienstleister der Gesellschaft und der Unternehmen sein - nicht umgekehrt. Dass sich diese Dienstleister zu Herrschern aufgeschwungen haben und mit Produkten handeln, die kein Mensch braucht, ist eine regelrechte Perversion. Diese Macht muss man brechen.

Scholz meint, zu kleine Banken seien ein Problem für die heimische Wirtschaft. Auch mittelständische Firmen seien auf starke, internationale Institute angewiesen.

Dahinter steckt die Behauptung, kleinere Banken könnten keine großen Projekte finanzieren. Aber in den vergangenen Jahrhunderten hat das wunderbar funktioniert. Mehrere Banken können sich bei Bedarf zu Konsortien zusammenschließen und das nötige Geld gemeinsam aufbringen. Das hat zudem den Vorteil, dass mehrere Vorstände und Aufsichtsräte sich diese Großprojekte anschauen und die Risiken bewerten.

Vom Bankensystem scheint derzeit keine große Gefahr auszugehen. Wo sehen Sie derzeit die größten Risiken?

Die Verbriefungen sind wieder da. Ich spreche von den sogenannten Collateralized Loan Obligations, kurz CLOs. In diesen Papieren stecken die unterschiedlichsten Kredite - etwa Unternehmenskredite, Darlehen an Studenten, Konsumentenkredite, Autofinanzierungen. Das hat eine viel größere Dimension als die Hypotheken-Verbriefungen vor dem Zusammenbruch von Lehman. Hinzu kommt: Wegen der Nullzins-Politik in Europa und den USA waren Investoren auf der verzweifelten Suche nach Rendite. Fündig wurden sie bei unsoliden Kreditnehmern. Und wie vor dem Lehman-Kollaps hoffen sie, dass es schon gutgehen wird.

Sie meinen Schwellenländer wie die Türkei oder Argentinien?

Ja. Und zwar sowohl Regierungen als auch Unternehmen. Die haben sich angesichts niedriger Zinsen fröhlich in Dollar verschuldet. Und nun haben sie angesichts des Währungsverfalls von Peso und Lira Schwierigkeiten, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Es ist doch so: Der Zins ist der wichtigste Kompass auf den Finanzmärkten. Er zeigt normalerweise, was gefährlich und was weniger gefährlich ist. Dieser Kompass wurde durch die Geldpolitik in Europa und den USA unbrauchbar. Wenn die Zinsen weltweit nahe null sind, ist das Risiko kaum noch abzuschätzen.

Können die Probleme in den Schwellenländern tatsächlich eine Krise auslösen, die mit der letzten Finanzkrise vergleichbar ist?

Nicht diese relativ überschaubaren Volkwirtschaften. Aber blicken Sie doch mal nach China. Das ist ein Damoklesschwert, das über uns schwebt. In China ist die größte Blase der Weltwirtschaftsgeschichte entstanden. Und steigende Zinsen in den USA werden dafür sorgen, dass die platzt.

Wieso?

Chinesische Unternehmen haben US-Kredite im Volumen von hunderten Milliarden Dollar aufgenommen. Große chinesische Unternehmen sind in Schwierigkeiten. Ein Beispiel ist die HNA-Gruppe. Die war 2017 groß bei der Deutschen Bank eingestiegen und musste sich jetzt aus Geldnöten in einem Notverkauf von ihrem Anteil wieder trennen. Kleineren Unternehmen geht es nicht viel besser. Insgesamt betragen die Schulden von Chinas Unternehmen 165 Prozent der Wirtschaftsleistung - und viele von ihnen erwirtschaften auch noch Verluste, die sie mit immer neuen Krediten decken. Nur weil das 20 Jahre funktioniert hat, heißt das nicht, dass das immer so weitergeht.

Und dann?

Da die Welt heute brutal globalisiert und vernetzt ist, hätte ein Platzen dieser Blase sofort Auswirkungen auch auf Deutschland. Unsere Exportindustrie ist ja extrem abhängig vom chinesischen Markt - und wir sind abhängig von unserer Exportindustrie. In China haben Investoren viel Geld gesteckt, das sie abschreiben müssen, wenn das Schneeballsystem in der Volksrepublik nicht mehr funktioniert. Wenn China kippt, dann gibt es eine neue Weltwirtschaftskrise. Und die wird weit schlimmer als das, was wir nach 2008 erlebt haben.

Mit Dirk Müller sprach Jan Gänger

Dirk Müller geht mit einer Live-Show ab Oktober auf eine Deutschland-Tournee. Die Termine für "Lasst den Bullen los - Vom Sparer zum Aktionär" finden Sie hier.

Quelle: ntv.de

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