Wirtschaft

Welt-Systemstressindex Brexit ist kein Systemrisiko!

WSS-Index Chart Juni.jpg

Im Juni stellen Notenbanken die zinspolitischen Weichen. Ein wichtiger Monat ist es auch wegen des EU-Referendums der Briten. Kommt der Brexit, rechnen viele Experten mit Turbulenzen. Zu Recht?

Der Juni 2016 ist ein Monat, der sich in die Geschichtsbücher einschreibt – ein Monat wichtiger Entscheidungen. Nicht nur die zukünftige Zinspolitik der wichtigsten Notenbanken der Welt (EZB, FED, BOJ, BOE) werden das zeitnahe Wirtschafts- und Kapitalmarktgeschehen leiten, sondern vor allem auch das britische Referendum am 23. Juni. "Egal, mit welchem professionellen Investor ich derzeit spreche, ob in Europa, den USA oder in Asien - alles dreht sich um das Thema Brexit", erklärt Dr. Markus C. Zschaber, Chef des Instituts für Kapitalmarktanalyse (IFK) in Köln, welches den "Welt-Systemstressindex" monatlich veröffentlicht.

Die vielen wirtschaftlichen und finanziellen Unklarheiten im Zusammenhang mit einem möglichen Brexit und die Gewissheit, dass eine etablierte Nation wie Großbritannien den Austritt aus dem elitären Club – der EU – wagt, könnten der Startschuss für ein langsames Auseinanderdriften der Europäischen Union sein. Dies sind zusammengefasst die Befürchtungen, die rund um den Globus die Gemüter beschäftigen!

Der systemische Stress an den Märkten nimmt seit Ende April wieder zu, allerdings erreichte dieser gemessen am „Welt-Systemstressindex“ mit einem aktuellen Wert von -20 Punkten noch kein Niveau, in dem systemische Schocks zu erwarten sind. Aber es bestehen durchaus gewisse Alarmsignale in einzelnen Teilanalysen des "Welt-Systemstressindex", die nicht zu unterschätzen sind und somit die Beunruhigung der Marktteilnehmer widerspiegeln, beispielsweise schwanken die Wechselkurspaare Euro/Pfund und USD/Pfund so hoch wie seit 2008 nicht mehr. Der Währungsmarkt ist der größte der Welt, täglich werden weltweit bis zu fünf Billionen US-Dollar gehandelt. Schlagen einzelne Währungen, wie das britische Pfund zu anderen etablierten Währungen aus der Norm, verdeutlicht dies eine nervösere Grundstimmung.

Außerdem besteht ansteigender Stress, gemessen am nervösen Preisverhalten von verbrieften Subprimekrediten, eben diesen Papieren, welche die Immobilienkrise in den USA 2007 auslösten. Auch die sogenannten Kreditausfallversicherungen für britische Staatsanleihen notieren derzeit doppelt so teuer wie noch vor sechs Monaten. Identisch verhalten sich die Ausfallversicherungs-prämien für britische Banken und importabhängige Unternehmen. Vor allem die Anstiegs-geschwindigkeit der besagten Prämien registriert das IFK Köln mit besonderem Interesse. Die allgemeine Konditionalität am britischen Finanzmarkt ist heute bereits angespannt, die Liquidität geht

zurück, Handelsumsätze gerade in risikoreicheren Segmenten werden geringer, Put-Positionen werden aufgebaut, Cash-Reserven erhöht. "Die Anspannungen rund um den britischen Finanzmarkt sind nicht von der Hand zu weisen, dies kann heute beispielsweise in der Zurückhaltung von Krediten im britischen Privatsektor erkannt werden. Bis jetzt kann aber noch keine außergewöhnliche Ansteckung auf Europa, Asien oder Nordamerika quantifiziert werden. Zurückhaltung und eine defensivere Bewertungsweise ja, aber noch keine Ansteckung", relativiert der IFK-Chef Markus Zschaber.

Laut IFK Köln ist damit zu rechnen, sollte es zu einem Brexit kommen, dass die Bank of England den Zinserhöhungszyklus vertagt bzw. umkehrt. Schon jetzt rechnen die Märkte erst Mitte 2017 mit Zinserhöhungen in Großbritannien. „Unsere Analyse ist hier eindeutig - sollte der Brexit eintreten wird die Zentralbank aufgrund der niedrigen Produktivität und Inflation ihre Politik sogar weiter lockern, unabhängig von der Verfassung des Arbeitsmarktes“. In Erwartung steigender Risikoprämien und Zinssenkungen sollte das britische Pfund kurzfristig recht deutlich an Wert verlieren. Wie es danach mit der Währung weitergeht, wird davon abhängen, wie Großbritannien sein hohes Leistungs-bilanzdefizit und die ausländischen Direktinvestitionen in den Griff bekommt. Britische Aktien dürften sehr wahrscheinlich unter den sich eintrübenden Wachstumsaussichten leiden.

Die kommenden Tage werden die Entscheidung und die Reaktionen an den Finanzmärkten aufzeigen. Die Gefahr bestünde, dass gerade die Finanzmärkte nach einem beschlossenen Brexit in einen Zustand der unsachgemäßen Neuadjustierung von möglichen Risiken hineingeraten“, fassen die IFK Analysten zusammen.

Die Folge wären starke Schwankungen in ganz Europa bei Aktienkursen, Wechselkursen und auf den Bondmärkten. Dies könnte neue Spekulanten regelrecht anziehen, welche innerhalb dieser ineffizienten Koordinationsphase an den Märkten schnelle Profite wittern und die Kursausschläge dynamisch verstärken, was wiederum andere Investoren zwingt, erneut Portfoliorisiken abzubauen und weiteren Druck auf die Märkte ausübt. Somit kommt es zur Flucht von Kapital aus Südeuropa nach Deutschland mit Auswirkungen auf Zinsen. Die Zinsen etwa für Italien würden steigen, die für deutsche Bundesanleihen wahrscheinlich noch weiter in den negativen Bereich fallen.

Ein Vergleich zu 2011, als die Eurozone zur Disposition stand, sieht das IFK Köln aber als sehr weit hergeholt. "Kurzfristige Verwerfungen an den Finanzmärkten bei einem Brexit sind wahrscheinlich, systemrelevante Schäden für die Weltwirtschaft erwarte ich aber kurzfristig auch nach einem Brexit nicht."

Die Gefahr bestünde eher langfristig, dass eine Kettenreaktion eintritt und auch andere Nationen eine Kosten-Nutzen-Analyse ihrer EU-Mitgliedschaft durchführen, wie z.B. Polen, Schweden oder Ungarn so die Ergebnisse. "In Europa herrscht derzeit eine Fliehkraft bei den Wählern an den rechten Rand zu Parteien, die erfahrungsgemäß sehr kritisch der EU und dem Euro gegenüberstehen. Ein Brexit würde die Lage sicherlich nicht entspannen. Nicht wenige Experten können sich in einem solchen Kontext sogar erneute Spekulationen gegen die Stabilität der Eurozone vorstellen“, konstatieren die Experten.  Nach Einschätzungen gehen diese Ängste aber zu weit, Hintergrund ist, dass die EZB unmissverständlich verdeutlicht hat, alles für den Erhalt des Euros und der Eurozone zu tun, welches diese notwendig ansieht. Bereits 2011 hatten Spekulanten auf den Zusammenbruch des Eurosystems gewettet und wurden durch die EZB in die Knie gezwungen. „Wir sind uns sicher, sollten ähnliche Angriffe gegen den Euro durchgeführt werden, würde die EZB ihre Garantieerklärung erneuern."

Die starken Verwerfungen durch die Furcht vor einer weltweiten Wachstumsschwäche oder eines möglichen Brexits, werden die Finanzmärkte auch bis auf weiteres beeinflussen.

"Fakt ist aber, wenn ich mir das fundamentale Grundwerk der Weltkonjunktur anschaue, dann sieht es im Grunde genommen besser aus, als von vielen erwartet wurde. Auch von den Unternehmensergebnissen ausgehend sehe ich, dass die Erwartungen in der Tendenz übertroffen werden, hier und da auch zwar Enttäuschungen vorkommen, aber eben deutlich mehr über den Erwartungen liegende Ergebnisse geliefert werden", konstatiert Zschaber.

Auf die Frage gibt es denn einen Brexit, gibt Markus Zschaber seine persönliche Einschätzung wieder und sagt "Nein".

Funktionsweise Welt-Systemstressindex:

Da sich Finanz-, Währungs- und realwirtschaftliche Krisen typischerweise deutlich voneinander unterscheiden, muss für die Identifikation von systemischen Risiken eine Vielzahl an Variablen dynamisch herangezogen werden, um eine Determination zu ermöglichen. Der "Welt-Systemstressindex" operationalisiert die Interdependenzen zwischen den Finanzmärkten und den makroökonomischen Entwicklungen auf Basis von Veränderungen bzw. der Veränderungsgeschwindigkeit. Bis zu 6500 Variablen werden für die weltweite Bewertung berücksichtigt. Der Index bietet damit ein Gesamtbild über die Verfassung und Anfälligkeit der Weltkonjunktur, der Weltfinanzmärkte sowie deren wechselseitige Abhängigkeit.

Indexstände oberhalb eines Niveaus von 20 Punkten (maximaler Stress 100 Punkte) bedeuten ein Stressniveau, welches bereits hohe Belastungen für die Realwirtschaft und die Finanzmärkte suggeriert. Bewegt sich die Stresskurve dagegen unterhalb einem Indexstand von -20 Punkten (minimaler Stress -100 Punkte) bedeutet dies, dass eine Entspannung erfolgt, in der ein Umfeld für positive Entwicklungen und Normalverteilung vorherrscht. Die Niveaus zwischen +20 und -20 quantifizieren das neutrale Umfeld. In diesem Bereich ist Wachsamkeit gefordert, da hier, je nach Richtung (zunehmender oder abnehmender Stress), dynamische Anpassungen in der Weltkonjunktur und an den Finanzmärkten bereits auftreten können.

Die "Vermögensverwaltungsges. Dr. Markus C. Zschaber mbH" und das "Institut für Kapitalmarktanalyse (IFK) Köln" stellen den Index monatlich exklusiv der "Wirtschaftswoche" und dem Nachrichtensender n-tv zur Verfügung. Informationen zum Index finden Sie unter www.zschaber.de und www.kapitalmarktanalyse.com

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen