Wirtschaft

China-Delle, US-Zenit, Brexit Droht deutscher Autoindustrie eine Krise?

Für die deutsche Autoindustrie, allen voran Platzhirsch VW, hat sich das makroökonomische Umfeld deutlich eingetrübt.

Für die deutsche Autoindustrie, allen voran Platzhirsch VW, hat sich das makroökonomische Umfeld deutlich eingetrübt.

(Foto: picture alliance / dpa)

Der Abgas-Skandal bei VW? Er ist bei Weitem nicht das einzige Problem für die deutsche Automobilindustrie: China erfindet sich neu, der US-Markt erreicht seine Wachstumsgrenzen und die Folgen des Brexit sind nicht absehbar. Es könnte knüppeldick kommen.

"Mene mene tekel u-pharsin" heißt es im Alten Testament. König Belsazar schlägt die Unheil ankündigende Botschaft, die auf seiner Palastwand prangt, in den Wind. Stattdessen feiert er eine wilde Party. Noch in der gleichen Nacht wird Belsazar von seinen Knechten erschlagen.

Helmut Becker schreibt als Autoexperte und Volkswirt für n-tv.de und teleboerse.de eine monatliche Kolumne rund um den Automarkt.

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Gibt es auch für die deutsche Automobilindustrie Anzeichen für drohendes Ungemach? Droht ihr ein ähnliches Schicksal wie König Belsazar? Und wenn ja, wieso gerade jetzt? Produktion, Absatz, Beschäftigung und Betriebsergebnis bei den meisten Unternehmen kündigen das beste Automobiljahr seit Jahrzehnten an. Die deutschen Premiumautos sind auf dem Weltmarkt gefragt wie niemals zuvor. Selbst der vom Abgasskandal gebeutelte Volkswagen-Konzern, dessen Marken- und Produktpalette mit zehn Millionen Automobilen im Jahr für rund zwei Drittel der weltweiten deutschen Automobilproduktion steht, scheint nichts an Marktakzeptanz verloren zu haben.

Also alles paletti? Nein, nichts ist paletti! Die Zeichen an der Wand sind inzwischen unübersehbar, die deutsche Automobilindustrie fährt ohne Zweifel schweren Zeiten entgegen. Das Tragische daran ist, dass hier zwei verhängnisvolle Herausforderungen zusammenkommen und sich damit gegenseitig potenzieren.

Nicht nur China bereitet Probleme

Zum einen verheißen makroökonomisches und politisches Umfeld auf wichtigen Absatzmärkten der deutschen Hersteller zunehmende Risiken. Zum anderen zeigen sich bei VW - wie bei Belsazar dereinst - merkwürdige Zeichen und Schriften an der Wand in Form von peniblen Recherchen, Veröffentlichungen und Klagen der US-amerikanischen Justiz. Diese lassen sich so deuten, dass bereits seit 2004 die Premium-Marke Audi Abgasmanipulationen bei großen Dieselmotoren betrieben haben soll - lange vor VW -, die zudem auch gegen europäisches Recht verstoßen haben. O tempora, o mores, wo soll das noch hinführen! Wie der VW-Konzern und vor allem die gesamte obere Führungsetage diese hausgemachten Gesetzesverstöße finanziell und personell überstehen sollen, wenn sie denn zutreffen, steht in den Sternen.

Bleiben wir bei den makroökonomischen Risiken: Im Vordergrund steht da China, dessen Wirtschaft sich voll im Transformationsprozess weg von der exportlastigen Industrie, dem Immobilienmarkt und der Abhängigkeit von den Grundstoffindustrien befindet. In den westlichen Industrieländern gingen in den zurückliegenden Jahrzehnten solche tiefgreifenden Umstrukturierungsprozesse nie ohne größere Wirtschaftskrisen vonstatten.

Und das soll in China anders sein, trotz zuvor nie gekannter strukturellen Verhärtungen und Dimensionen? Dazu nur ein Beispiel: Im Reich der Mitte wurde 2012 bis 2014 mehr Zement gebrannt und verbaut als in den USA im ganzen 20. Jahrhundert!

Trotz aller Courage der Regierung und trotz vieler ermutigender Anzeichen gleicht der Umbauprozess in einer so riesigen Volkswirtschaft wie China dem Ritt auf der Rasierklinge: Ausgang ungewiss. Darüber kann auch nicht der aktuelle Absatzboom auf dem Automobilmarkt dank staatlicher Steuersubventionen nicht hinwegtäuschen. Wir alle wissen aus Deutschland: Staatlich entfachte Strohfeuer wärmen nicht dauerhaft.

US-Absatz erreicht Zenit

Zum anderen kann das ganze Umbauwagnis jederzeit aus dem Ruder laufen. Nur eines ist gewiss: Ersatz für die über vier Millionen Automobile mit deutschem Markenzeichen, davon allein drei Millionen der Marke VW, die heute in China verkauft werden, wird es bei einer konjunkturellen Marktschwäche für die deutschen Hersteller nirgendwo geben können. China hat nach 2009 die Welt und auch die deutsche Autoindustrie gerettet - Wiederholung vorerst ausgeschlossen!

Und in den USA? Wie sieht es da aus? Dort läuft es derzeit, mit Ausnahme von VW, für die deutsche Automobilindustrie dank der Premium-Hersteller BMW und Daimler und auch der großen Zulieferer mit vielen eigenen nordamerikanischen Werken, extrem gut. Im Aufwind! Aber: Der marktbestimmte Wachstumstrend dürfte spätestens 2017 seinen vorläufigen Höhepunkt erreichen. Und das einzig und allein aus konjunkturellen, nicht aus politischen Gründen!

Krisen bieten auch Chancen

Das heißt natürlich nicht, dass deutsche Hersteller und Zulieferer "gegen den Trend" über Marktanteilsgewinne dank besserer Produkte und Performance nicht weiterwachsen können. Das gilt im Übrigen auf und für alle übrigen Märkte auch. Grundsätzlich gibt es für gut geführte und wettbewerbsfähige Unternehmen mit ethischen Geschäftsgrundsätzen keine Grenzen des Wachstums.

Für den deutschen Mittelstand gerade im Zulieferbereich mit seinen "Visible" wie "Hidden Champions" kann man da sehr zuversichtlich sein. Dass sich unter den weltweit zehn größten Zulieferunternehmen inzwischen drei deutsche Konzerne befinden, spricht für sich und hat es zuvor noch nie gegeben.

... und dann noch der Brexit

Bleibt noch Europa. Nachholeffekte aus der zurückliegenden Krise seit 2009 werden auch bis 2017 für eine positive Marktentwicklung sorgen, die in einzelnen Ländern wie Italien oder Spanien zweitweise sogar für hohe zweistellige Zuwachsraten gesorgt hat. 2017 wird in Westeuropa mit annähernd 15 Millionen Neuzulassungen der alte Höchststand vor der Krise wieder erreicht sein.

Deutschland ist international der "weiße Rabe", dem alles zu gelingen scheint und der alle wirtschaftlichen und politischen Probleme wie die Migrations- und Integrationsherausforderungen auf dem Rücken einer florierenden Export- und Binnenwirtschaft und unaufhörlich steigender Beschäftigtenzahlen scheinbar mühelos lösen kann. Wäre da nicht der Brexit!

Die große Frage ist: Welche wirtschaftlichen Folgen - und nur darum soll es hier gehen - hat die Mehrheitsentscheidung der britischen Bevölkerung, der Europäischen Union den Rücken zu kehren, für Europa und vor allem für Deutschland?

Abwarten und Tee trinken

Fakt ist: Großbritannien ist ein wirtschaftliches Schwergewicht, die zweitgrößte Volkswirtschaft innerhalb Europas, für die deutsche Autoindustrie weltweit sogar das größte Exportland, vor den USA und China. Von den gut vier Millionen aus Deutschland 2015 exportierten PKW wurden allein 810.00 nach Großbritannien ausgeführt, mehr als die Hälfte davon vom VW-Konzern.

Der britische Automarkt erreichte 2015 ein neues Rekordniveau mit einem Volumen von 2,6 Millionen. Die Hälfte davon entfiel auf eine deutsche Konzernmarke. Insgesamt waren 2015 86 Prozent aller Pkw-Neuzulassungen in Großbritannien importiert, lediglich 400.000 stammten aus englischer Produktion. Von den knapp 1,6 Millionen Pkw, die 2015 in Großbritannien gefertigt wurden, gingen gut 1,2 Millionen in den Export, überwiegend in andere EU-Länder.

Welche wirtschaftlichen Auswirkungen der Brexit auf die deutsche Autoindustrie haben wird, muss an dieser Stelle offenbleiben, da die wichtigsten Einflussfaktoren noch unbekannt sind: Nach welchem Modell soll der Brexit funktionieren, mit oder ohne Zollschranken? Und: Kommt es überhaupt dazu, wenn die Schotten und Nordiren partout in der EU bleiben wollen? Wie entwickelt sich das britische Pfund, wie stark wertet es ab, wie ist der Trend?

Von den Antworten hängt es ab, ob die Inselbewohner durch den Brexit per Saldo Kaufkraft- und damit Einkommens- und Vermögensverluste erleiden werden oder ob es zu Einkommens- und Kaufkraftgewinnen kommt infolge einer wechselkursbedingten Reindustrialisierung. Beides ist möglich. Im ersten Fall muss die deutsche Autoindustrie mit Absatzverlusten rechnen, im zweiten Fall kann sie Kosten- und Standortvorteile durch Produktionsverlagerung erzielen, die dann langfristig auch wieder der britischen Kaufkraft zugutekommen. Indessen: Die Absatzverluste (Fall 1) sind sicher, die möglichen Reindustrialisierungs- Gewinne (Fall 2) nicht.

Und so gilt: Noch ist nichts entschieden. Nun heißt es abwarten und Tee trinken!

Quelle: ntv.de

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