Wirtschaft

Schock oder Chance? "Brexit trifft VW am härtesten"

Ein VW beim Crashtest: Kunden und Anleger des Konzerns brauchen weiterhin starke Nerven.

Ein VW beim Crashtest: Kunden und Anleger des Konzerns brauchen weiterhin starke Nerven.

(Foto: picture alliance / dpa)

Der Abgasskandal lastet noch immer auf dem Volkswagen-Konzern, da eröffnet sich für den Autobauer die nächste Baustelle. Aber wird der Brexit zur Belastung für die gesamte deutsche Automobilindustrie? Was droht den Herstellern noch? Und: Warum rudert der VDA bei der E-Mobilität so drastisch zurück? Autoexperte Helmut Becker verrät es im n-tv.de-Interview.

n-tv.de: Die Automobilindustrie schlug sich im abgelaufenen Quartal erneut mit dem Abgasskandal bei Volkswagen herum. Ende Juni drängte dann ein anderes Thema in den Vordergrund und schockte auch die Autohersteller und Zulieferer: das Brexit-Votum Großbritanniens. Werden die Briten den EU-Austritt durchziehen?

Helmut Becker schreibt als Autoexperte und Volkswirt für n-tv.de und teleboerse.de eine monatliche Kolumne rund um den Automarkt.

Helmut Becker schreibt als Autoexperte und Volkswirt für n-tv.de und teleboerse.de eine monatliche Kolumne rund um den Automarkt.

Helmut Becker: Nein, ich denke nicht, so jenseits aller ökonomischen Wirklichkeit können selbst Inselbewohner nicht sein! Je mehr Zeit seit dem Votum vergeht, desto offensichtlicher werden die Widerstände dagegen in der britischen Gesellschaft. Die Alten haben den Jungen die Zukunft genommen. Es scheint, als werde den Briten immer mehr bewusst, dass sie demagogischen Parolen von Polit-Clowns aufgesessen sind, die sich jetzt vor dem Vollzug drücken. Die Nachteile eines Austritts für die Wirtschaft und die Bevölkerung sind erheblich größer als die Vorteile. Vor allem die junge Generation kommt sich betrogen vor, weil eine Mehrheit von ihr für einen EU-Verbleib gestimmt hat. Ich glaube fest daran, dass das Brexit-Votum revidiert wird.

Apropos Wirtschaft: Großbritannien ist der fünftgrößte Abnehmer deutscher Produkte, laut Branchenverband VDA sogar das größte Exportland für deutsche Autos - rund 810.000 nahmen 2015 den Weg auf die Insel. Ist der Brexit ein Horrorszenario für die deutsche Autoindustrie?

(lacht) Nein, auch die Engländer und Waliser werden morgen und übermorgen noch Auto fahren wollen - und da die einheimische Industrie vergleichbare Fahrzeuge nicht zu bieten hat, wird man auch weiterhin deutsche Autos importieren. An dieser Grundsituation wird sich nichts ändern.

Beim Preis aber schon, denn das britische Pfund wertete nach dem Votum deutlich ab.

Ja. Aber auch diese Situation geht vorüber - alles vor 35 Jahren schon mal dagewesen. Die jetzige Abwertung sehe ich nur als kurzfristigen Schock. Per Saldo werden aber, nachdem sich alles wieder beruhigt und eingependelt hat, eine Verteuerung der britischen Importe und auch eine höhere Inflation, höhere Zinsen und so weiter in England bleiben. Den Preis müssen die Engländer schon zahlen.

Ein günstiges Pfund hilft aber gleichzeitig der britischen Industrie, also auch den dortigen Autoherstellern.

Richtig! Die Pfund-Abwertung kommt der Insel-Wirtschaft zugute, auch den Autoherstellern, die überwiegend für den Export produzieren und dadurch nun einen Preisvorteil genießen, egal, ob nun Mini, Vauxhall, Rolls-Royce oder Bentley. Leider gibt es ansonsten in England inzwischen kaum noch Industrie.

Zurück zur Autoindustrie: 2,6 Millionen Neuzulassungen gab es auf der Insel im vergangenen Jahr. Angenommen, der Brexit kommt: Wie werden die deutschen Autohersteller und Zulieferer reagieren?

Im Allgemeinen hört man, dass der Brexit ein Nachteil für die deutschen Autohersteller ist. Das gilt aber in erster Linie für die deutschen Zulieferer, die keine Kompensation im Form billiger Importe aus England haben. Klar, denn wie bereits erwähnt werden die deutschen Exporte nach Großbritannien teurer. Aber eigentlich muss man sich jeden einzelnen Autobauer individuell anschauen. Beispiel BMW und Mini: Der Export von BMW-Modellen – hergestellt in der EU - verteuert sich für das Unternehmen, umgekehrt wird der Import von Mini-Fahrzeugen in die EU aber günstiger, weil die auf der Insel hergestellt werden. Sollte der Brexit dauerhaft sein - was ich wie gesagt nicht glaube - könnten sogar mehr Produktion und Fabriken nach England verlagert werden. Gekniffen sind aber die japanischen Autohersteller, die England als Stützpunkt für den EU-Markt genutzt haben.

Werden die deutschen Hersteller also stärker vor Ort, in Großbritannien, produzieren? 2015 kamen 216.000 von 1,2 Millionen Pkw, die insgesamt auf der Insel gefertigt wurden, aus Werken deutscher Hersteller.

Das ist eine realistische Möglichkeit.

Welcher Hersteller leidet am meisten?

Auch hierbei lässt sich eine genaue Antwort nicht geben. BMW verkauft beispielsweise zwar viele Autos nach Großbritannien, importiert allerdings auch - siehe Mini - viele Fahrzeuge von der Insel. Es könnte also ein Nullsummenspiel entstehen. Ich denke aber, dass Volkswagen Auswirkungen am meisten spüren wird. Bei den Wolfsburgern ist der Exportanteil auf die Insel hoch, aber dort hergestellt werden nur die Bentleys. Und deren Stückzahl ist verschwindend gering, sodass eine wirkliche Kompensation nicht stattfindet. Da kommen über den Wechselkurs erhebliche Volumen- und Ertragsrisiken auf VW zu, zusätzlich zu all dem anderen Schlamassel.

Apropos VW: Es kommen noch immer beinah wöchentliche Hiobsbotschaften aus Wolfsburg. Derzeit wachsen die Straf- und Ausgleichszahlungen. Statt 10 Milliarden sind es nun schon knapp 15 Milliarden Dollar. Wird es noch mehr werden?

Ich denke schon, nur in den USA wohl nicht. Dort geht es um die Ahndung von direkten Gesetzesverstößen. Da ist VW mit den Entschädigungen für die Autofahrer und den Strafzahlungen an beispielsweise die Umweltbehörde so gut wie durch. Klagen von Autofahrern einmal außen vorgelassen. Allerdings bleibt die Umwelt dabei auf der Strecke, wegen der man angeblich das Ganze losgetreten hat - ein Treppenwitz!

Und wie steht es in Europa: Können auch europäische VW-Kunden auf Entschädigungen hoffen?

Hier gilt im Prinzip das Gleiche in Sachen Umwelt, Entschädigung mindert nicht den NOX-Ausstoß! Sonst gilt, dass VW anders als in den USA in Europa nicht gegen Gesetze verstoßen hat. Das ist der kleine, aber feine Unterschied. Von daher denke ich, dass das Thema Strafen und Entschädigungen in Europa für VW legal ausgestanden ist. Auf einem anderen Blatt steht allerdings, ob die Wolfsburger nicht auf Kulanzbasis etwas für ihre europäischen Kunden tun sollten, damit die sich nicht als Kunden zweiter Klasse fühlen. Und wenn es Gratisinspektionen oder etwas Ähnliches sind. Das wäre zumindest wünschenswert, auch für das Image des VW-Konzerns.

Mal vorausgeblickt: Wird das Thema Abgasskandal am Jahresende endlich durch sein?

Davon gehe ich, was die Sache an sich angeht, zumindest aus. Personell mag es anders aussehen, wenn die Frage der Marktmanipulation durch den ehemaligen VW-Vorstand um Chef Martin Winterkorn und auch um den derzeitigen Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch bis dahin noch nicht abschließend geklärt sein wird. Das kann dauern!

Der "neue" VW-Chef Matthias Müller hat die Diesel-Technologie nun infrage gestellt. Ist das eine Kurzschlussreaktion, sollte das nur medial die Wogen glätten oder ist das die logische Konsequenz aus "Dieselgate"?

Für mich ist das nicht die logische Konsequenz. Ich halte das eher für eine marketinggetriebene Aktion, als dass sie reale Hintergründe hat. Für mich als Nicht-Techniker ist die Dieseltechnologie keineswegs tot, sie ist technisch beherrschbar - aber sie kostet halt Geld. Je kleiner das Auto ist, desto stärker schlagen im Verhältnis die Kosten für die optimale Diesel-Abgasreinigung zu Buche. Und das ist leider bei VW so, bei den Premiumherstellern BMW und Daimler ist das anders.

Nichtsdestotrotz hat VW die 'Strategie 2025' ausgerufen und will sich weitaus stärker als bisher der Elektromobilität verschreiben ...

Das ist richtig, aber auch nur alter Wein in neuen Schläuchen. Angedacht innerhalb des Programms sind etwa Zusammenlegung von Komponentenwerken, Reduzierung der Teilevielfalt, der Baukästen und der Varianten ebenso wie von Baureihen, sich Trennen von bestimmten Marken et cetera. Das ist alles nicht neu, das wurde auch schon bei Winterkorn ausgerufen. Zielsetzung von Müller ist die Einsparung von sieben Milliarden Euro jährlich, ich wiederhole: sieben Milliarden! Da fragt man sich als Ökonom, wieso dass nicht ohne Dieselgate schon vorher angegangen wurde. Wo war denn da das Controlling und der Finanzvorstand? Der Pferdefuß an Müllers Strategie ist zudem, dass er nichts dazu gesagt hat, wie er diese Einsparungen und vermeinte Neuausrichtung ohne Jobabbau schaffen will. Sieben Milliarden Einsparungen jährlich lassen sich ja nicht über die Verschlechterung des Kantinenessens oder die Rückgabe des dritten Sterns im Wolfsburger Sterne-Restaurant erwirtschaften (lacht). Da muss man in erheblichem Umfang an die Personalkosten heran, da müssen die berühmten Köpfe rollen.

Braucht es das denn?

Wenn man die ausgegebenen Ziele erreichen will, kommt man nicht darum herum. Der Letzte, der das bei VW gewagt hat, war Wolfgang Bernhard, allerdings rollte dessen Kopf dann auch. Wie Müller das alles gegen die Macht des Betriebsrates stemmen will, ist mir ein Rätsel. Vermutlich geht er vorher in Pension.

Nun hat VDA-Chef Matthias Wissmann jüngst gesagt, dass auf dem Weg zur Elektromobilität der Verbrennungsmotor als Brücke unverzichtbar sei, eine Abkehr vom Verbrennungsmotor bis 2030 "geht auf keinen Fall".

Ja, da rudert der VDA plötzlichen und unerwartet kräftig zurück - wie die Briten beim Brexit derzeit. Vor wenigen Wochen, als man der Bundesregierung die Subventionen zum Kauf von E-Autos aus den Rippen leierte, klang das noch deutlich anders. Aber klar ist: Stand heute, morgen und auch noch übermorgen sind die Leistungen der Lithium-Ionen Batterien - und das sind heute die Besten - unzureichend. Und die Nutzung von E-Autos ist zu unkomfortabel für die Fahrer. Nur ein kleines Beispiel: ich bin vor Kurzem von München nach Wien und zurück - also fast 1000 Kilometer - mit meinem Diesel mit einer Tankfüllung gefahren. Da sehen alle E-Autos alt aus!

Welche Rolle spielt der tödliche Unfall eines autonom fahrenden Tesla in den USA für die Entwicklung dieser  Zukunftstechnologie?

Sollte sich so etwas wiederholen, wäre es der Tod des Autonomen Fahrens. Entgegen aller Versprechungen der Autoindustrie wird das Fahren dadurch unsicherer. Wir müssen damit rechnen, dass die Technik Fehler macht. Der Mensch macht diese zwar auch, aber er kann sie im Anschluss korrigieren. Beim Autonomen Fahren ist er aber der Technik ausgeliefert. Auf Dauer wird sich kein Autofahrer den Gefahren dieser Technik aussetzen.

Einmal zurückgeblickt: Der Start ins Autojahr ist besser als erwartet ausgefallen. Wie sieht es zum Ende des ersten Halbjahres aus?

Die Automobilkonjunktur allgemein ist so gefestigt wie von mir erwartet. In Deutschland sogar noch ein Tick gefestigter, auch wegen der positiven konjunkturellen Rahmenbedingungen. Zum einen greift die "Flüchtlings-Dividende", zum anderen kommen Ersatzbedarfszyklen hinzu. Alles in allem befruchten sich die Autokonjunktur und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland gegenseitig. Die Erholung in Europa setzt sich ebenfalls fort - mit zweistelligen Neuzulassungszuwächsen vor allem in den südlichen EU-Ländern. Deshalb lässt sich abschließend sagen: Die Autokonjunktur in Europa ist derzeit hervorragend!

Wird sich die Entwicklung auch bis zum Jahresende fortsetzen, trotz der Unsicherheiten rund um den Brexit?

Wenn sich die Verwerfungen der letzten Tage an den Finanzmärkten in Grenzen halten, wenn es keinen nachhaltigen Börsencrash gibt, der die Verbraucherstimmung verhageln würde - dann ist die positive Automobilkonjunktur in Europa für den restlichen Jahresverlauf gesichert.

Der Brexit könnte aber Folgen haben?

Könnte er sicher. Nur lässt sich das bisher nicht vorhersagen oder direkt an Zahlen ablesen. Dazu müssen wir wohl noch bis mindestens August oder September warten.

Mal vorausgeblickt: Ist der Brexit Ende des Jahres schon in trockenen Tüchern?

Nein, ich denke, das beschäftigt uns noch länger. Bisher heißt es ja, dass die Briten erst im Herbst anfangen werden, die notwendigen Schritte einzuleiten, also ein vom Parlament verabschiedetes Austrittsgesuch nach Brüssel senden werden. Nun ist es aber so, dass das Parlament, das übrigens für Europa ist, gar nicht das Abstimmungsergebnis gebunden ist, es also negieren kann. Was dann?  Also: Alles ist offen. Bis Herbst werden sich bereits andere Themen - wie etwa die griechische Schuldenkrise oder die Lage in Frankreich und Italien beispielsweise - wieder in den Vordergrund drängen.

Mit Helmut Becker sprach Thomas Badtke

Quelle: ntv.de

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