Wirtschaft

1,6 Prozent bis Ende 2016? Weshalb die Fed die Zinswende wagt

Sieben Jahre nach der Lehman-Pleite hält die Finanzwelt erneut den Atem an, denn es droht das Ende einer Ära: Wird die Fed die Politik der Niedrigzinsen beenden? Und was wären dann die Folgen?

Fast auf den Tag genau sieben Jahre nach der Lehman-Pleite 2008 hält die Finanzwelt erneut den Atem an: Wenn US-Notenbanker John Williams recht behält, werden am 17. September die Zinsen in den USA steigen. Das Ende einer Ära naht, in der die Federal Reserve (Fed) Wirtschaft und Wall Street mit billigem Geld am Leben und bei Laune hielt. Doch Krise war gestern und Aufschwung ist heute. Sobald Fed-Chefin Janet Yellen die erste Stufe der Zinserhöhung zündet, kommt es zu einem riskanten Abkoppelungsmanöver. Denn ihre Kollegen in Tokio oder Frankfurt werden ihr auf dieser Reise nicht folgen - Konjunktur und Börsen würden es noch nicht verkraften.

Wenn der ohnehin starke Dollar bei steigenden Zinsen noch weiter die Muskeln spielen lässt, könnten sich die USA international Nachteile für ihre Exporteure einhandeln. Aber auch China, dessen Börsen  zuletzt wegen eingetrübter Konjunkturaussichten erneut in die Tiefe rauschten, muss wegen drohender Kapitalabflüsse und Wechselkursrisiken für seine Firmen zittern.

"Ein Zinsanstieg in den USA im September scheint mir dennoch ein klarer Fall", sagt Allianz-Chefvolkswirt Michael Heise. Er hat dort gerade mit Zentralbankern gesprochen und den Eindruck gewonnen, dass der Countdown für den Start in die geldpolitische Straffung läuft. Von Yellen sei allerdings Fingerspitzengefühl gefragt: "Ich bin mir nicht so sicher, wie es von den Märkten verdaut wird, wenn sie andeuten sollte, dass weitere Schritte folgen werden." Aussagen Yellens gingen zuletzt in die Richtung, dass sie behutsam vorgehen wolle. "Die Unsicherheit wird aber auch nach dem September sicher hoch bleiben", warnt Commerzbank-Devisenexpertin Thu Lan Nguyen.

Nach einer Kommunikationspanne vor wenigen Tagen weiß die Öffentlichkeit nun aber zumindest, dass Mitarbeiter aus dem Stab der Fed mit einer Erhöhung des Leitzinses in diesem Jahr um einen Viertel-Prozentpunkt rechnen. Bei dem versehentlich veröffentlichten Papier handelt es sich zwar nicht um die offizielle Einschätzung der Fed-Banker. Doch die internen Planspiele der Fachleute sind offenbar so vertraulich, dass die Notenbank sie in der Regel fünf Jahre unter Verschluss hält.

Falls die interne Prognose zutrifft, wäre das Zinsniveau jenseits des Atlantiks Ende 2015 mit dann knapp 0,4 Prozent höher als in der Eurozone, wo es seit September 2014 auf dem Rekordtief von 0,05 Prozent liegt. Damit wäre die Zinshöhe aber noch immer einen Tick niedriger als in Großbritannien mit 0,5 Prozent. Die Fed-Banker selbst erwarten in der im Juni regulär veröffentlichten Vorhersage, dass der US-Schlüsselsatz bis Ende 2016 auf 1,6 Prozent klettern und die Kluft gegenüber der Eurozone dann noch größer wird.

Die Null steht

Denn im gemeinsamen Währungsraum wird nach Ansicht von Beobachtern noch lange Ruhe an der Zinsfront herrschen. EZB-Chef Mario Draghi hat erst im März mit einem billionenschweren Wertpapier-Kaufprogramm die größte Geldschleuder in der Geschichte der Euro-Zone in Gang gesetzt. Er denkt wohl nicht im Traum daran, der anziehenden Wirtschaft jetzt mit höheren Zinsen zuzusetzen. Erstmals seit dem Ausbruch der Finanzkrise trennen sich also die Wege von Fed und Europäischer Zentralbank (EZB). Muss sich Draghi vor negativen Folgen fürchten?

Ein Experte einer europäischen Notenbank weist darauf hin, dass nach den Vorstellungen der Fed der Startschuss erst dann fällt, wenn das wirtschaftliche Umfeld stimmt: "Von dieser guten US-Konjunktur wären dann auch positive Impulse für den Euro-Raum zu erwarten." Doch es gibt auch Sorgen. Steigenden Zinsen am US-Kapitalmarkt könnten sich europäische Anleihen kaum entziehen: "Das hätte dann wirtschaftlich dämpfende Effekte."

Nicht nur würde die Zinslast mancher Länder wieder steigen. Auch hätten Banken weniger Anreize, mehr Kredite an die Wirtschaft zu vergeben. Und das bedeutet weniger Schub für die Konjunktur. Draghi hat allerdings stets betont, dass er mit seinen Instrumenten jederzeit gegensteuern könne.

Yellen muss gegen den Strom schwimmen

Mit Blick auf die Gefahren einer raschen US-Zinswende für die Schwellenländer haben Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) Yellen empfohlen, das Manöver auf 2016 zu verschieben. IWF-Chefin Christine Lagarde behagt die frühe geldpolitische Zeitenwende in Washington nicht, wenn sich die Welt andernorts noch lange um den Nullzins dreht. Die Französin, früher eine glänzende Synchronschwimmerin, hat dafür einen passenden Begriff parat: "Asynchrone Geldpolitik". Diese könne das Währungsgefüge durcheinanderbringen. Konkret bedroht der starke Dollar nach ihrer Ansicht die Schwellenländer, weil sich dort Banken und Unternehmen häufig in Dollar verschuldet haben.

Diese Staaten seien deshalb "besonders verwundbar". Nach Schätzungen der US-Investmentbank Morgan Stanley halten Chinas Firmen rund ein Viertel ihrer Unternehmenskredite in amerikanischer Währung. Ein anziehender Dollar-Kurs verteuert den Schuldendienst. Denn den Großteil ihrer Gewinne verdienen die Firmen in der heimischen Währung Renminbi. Die Ratingagentur Fitch befürchtet wegen dieser und weiterer Risiken in den aufstrebenden Wirtschaftsnationen Störungen an den Märkten - wenn auch nur vorübergehend.

Auch in Dollar verschuldete Unternehmen in Zentral- und Osteuropa sowie in Lateinamerika und Indonesien seien durch steigende US-Zinsen gefährdet. Als verwundbar gilt zudem Russland: Der Rohstoff-Exporteur liegt wegen des Ukraine-Konflikts im Clinch mit dem Westen und ächzt unter Wirtschaftssanktionen. Ihm macht bereits seit längerem der Verfall des Ölpreises zu schaffen. Das Land erzielt rund 40 Prozent seiner Einnahmen aus dem Verkauf des "schwarzen Goldes". Als Verlierer einer Zinserhöhung in Washington haben die Bonitätswächter ein weiteres Land ausgemacht: Die Türkei.

Panik - oder doch nicht?

Vor zwei Jahren hatte die türkische Lira mit heftigen Verlusten auf die Ankündigung des damaligen Fed-Chefs Ben Bernanke reagiert, die Dosis der monatlichen Geldspritzen für die Finanzmärkte langsam reduzieren zu wollen. Bruno Cavalier, Chefvolkswirt des französischen Wertpapierhauses Oddo Securities, befürchtet jedoch keine panikartigen Verkäufe wie damals. "Das war eine Überraschung und verursachte eine Menge Turbulenzen - insbesondere in den Schwellenländern." Nun sei die Situation völlig anders - die Zinswende komme nicht unerwartet.

"Es sei denn, man war die vergangenen beiden Jahre auf einer einsamen Insel", so Cavalier. "Anleger werden aber dennoch zwischen einzelnen Staaten differenzieren", betont Commerzbank-Expertin Nguyen. Bei türkischer Lira und südafrikanischem Rand sei mit weiteren Kursverlusten zu rechnen. Beide Länder haben hohe Leistungsbilanz-Defizite. Sie importieren also mehr als sie exportieren. Um ihr Wirtschaftswachstum zu finanzieren, muss daher ausreichend Kapital ins Land strömen. Wenn nach der Zinswende aber Geld in Richtung USA abfließen sollte, kann dies problematisch werden. Auch die Bundesbank ist besorgt. Sie sieht Gefahren auf die Schwellenländer zukommen, wenn sich die USA vom Nullzins verabschieden.

Chinas Furcht vor der Kapitalflucht

Deutschland schaut vor allem mit bangem Blick auf China. Die Handelsverbindungen mit der Volksrepublik sind eng. 2014 wurden Waren im Wert von 75 Milliarden Euro exportiert - 6,5 Prozent der gesamten Ausfuhren. Auch deutsche Firmen - etwa Autobauer wie BMW und VW - bekommen das Abebben des Booms immer stärker zu spüren. Kein Wunder: Die Volksrepublik ist der größte Automarkt der Welt.

Für diesen wichtigen Handelspartner könnte eine Zinserhöhung zum falschen Zeitpunkt kommen, warnt der Berliner China-Experte und frühere Weltbank-Mitarbeiter Björn Conrad. "Im Moment kann das Land keine Bremse für seinen Wachstumsmotor gebrauchen, der ohnehin nicht mehr rund läuft", so der Stellvertretende Direktor des Mercator Institute for China Studies (Merics). Die Wirtschaft wächst nach Jahren mit wahrem Turbowachstum längst nicht mehr so rasant. Regierung und Notenbank halten mit Konjunkturprogrammen und immer neuen Zinssenkungen dagegen. Doch das grundsätzliche Vertrauen in die Zugkraft der Wirtschaft sei nicht mehr so stark wie bisher, sagt Conrad.

Dabei hat die regierende Kommunistische Partei Chinas ganz andere Eingriffsmöglichkeiten in Wirtschaft und Finanzwelt als westliche Staaten wie etwa Brasilien oder Mexiko. Lange Zeit verhinderten Kapitalverkehrskontrollen einen Geldabfluss im großen Stil. Im Zuge von Wirtschaftsreformen werden diese jedoch momentan deutlich gelockert. "Hinzu kommen zahlreiche halblegale Schlupflöcher. Kapitalflucht kann damit in Zukunft ein echtes Risiko für Peking werden", warnt Conrad.

Gelegenheit über diese und andere Probleme auf höchster Ebene zu diskutieren, bietet das Plenum des KP-Zentralkomitees im Oktober. "Wenn die US-Notenbank die Zinsen erhöht, ist das für die Wirtschaftslenker in Peking ein wichtiges Puzzleteil, das sie in ein immer schwieriger werdendes Gesamtbild einordnen müssen", ergänzt der Merics-Experte.

US-Trauma Finanzkrise

Doch Yellen dürfte sich bei ihrer geldpolitischen Strategie nicht von den Sorgen Pekings leiten lassen. Schon zu lange ist die Fed im Krisenmodus: Im Dezember 2008 - nur wenige Monate nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers - hatte Yellens Vorgänger Bernanke den Leitzins auf das Niveau von null bis 0,25 Prozent gedrückt. Damals war die Arbeitslosigkeit in der weltgrößten Volkswirtschaft bedrohlich angestiegen. Nun kommt mit einer Quote von 5,3 Prozent Vollbeschäftigung wieder in Sicht.

Vor dem US-Kongress gewährte Yellen gerade Einblick in ihre Pläne: Ruhig, aber bestimmt ließ die Währungshüterin keinen Zweifel daran, dass die Mission Zinswende 2015 starten wird. Eine Straffung der Geldpolitik sei der Gradmesser dafür, wie stark sich die US-Wirtschaft vom "Trauma der Finanzkrise" gelöst habe. Die Botschaft: Der Patient soll jetzt vom Tropf genommen werden.

Trend zum starken Dollar

Für Devisenanleger gilt die US-Zinswende als gesetzt. So hat sich der auch durch die Turbulenzen um Griechenland gerupfte Euro zwischen Frühjahr 2014 und Frühjahr 2015 um etwa ein Viertel verbilligt. Er rutschte zeitweise auf ein Zwölf-Jahres-Tief von 1,0456 Dollar. Mittlerweile hat er sich bei 1,10 Dollar eingependelt. "Die Hauptsorge für die

US-Volkswirtschaft ist, dass sich der Dollar im Sog der Zinserhöhungen weiter festigt", warnt Philipp Vorndran, Kapitalmarktstratege bei Flossbach von Storch – ein Vermögensverwalter mit Sitz in Köln. Er befürchtet, dass die Zinswende zu früh kommt: "Die Wettbewerbsfähigkeit der US-Exporteure leidet. Außerdem sind höhere Zinsen Gift für den Immobilienmarkt."

Der Trend zum starken "Greenback" könnte sich fortsetzen, wenn Yellen die Zinszügel strafft. Geldanlagen in Dollar werden dann im Vergleich zu solchen in Yen oder Euro attraktiver. Der Chefvolkswirt von Degussa Goldhandel, Thorsten Polleit, hält es für sehr gut möglich, dass die Gemeinschaftswährung zum Jahresende auf die Parität zusteuert. Die Kurse der beiden Währungen wären dann annähernd gleich - 1 Euro = 1 Dollar. Das gab es zuletzt Anfang 2002, kurz nach dem Platzen der Internet-Preisblase an den Börsen. Chefökonom Thomas Gitzel von der VP Bank in Liechtenstein glaubt aber nicht, dass der Euro so tief fallen wird. Schließlich sei der Dollar überbewertet. "Kann die US-Wirtschaft die Ansprüche nicht erfüllen, drohen dem Dollar angesichts der hoch liegenden Messlatte deutliche Kursverluste."

Viele US-Firmen würden dies wohl gerne sehen, denn der starke "Greenback" macht ihnen zu schaffen. Im Mai gingen die Ausfuhren zum Vormonat um 0,8 Prozent auf 188,6 Milliarden Dollar zurück. Die Geschäfte auf wichtigen Märkten wie Deutschland, Frankreich, Mexiko und Japan schrumpften allesamt.

Angesichts der mit der Zinswende verbundenen Risiken spricht vieles dafür, dass der einstige Bundesbankchef Axel Weber Recht behält: "Jede Korrektur der Geldpolitik der USA hat in der Vergangenheit zu Verwerfungen geführt", warnte er jüngst im "Handelsblatt."

Ob die Fed tatsächlich im September die Zinszügel erstmals seit Juni 2006 anziehen wird, ist jedoch keineswegs ausgemachte Sache. US-Notenbanker Williams hält es allerdings für "sehr plausibel". Und der Chef der Fed von San Francisco sollte es gut einschätzen können. Er liegt geldpolitisch auf einer Wellenlänge mit Yellen. Am 17. September werden sie das Geheimnis lüften: sieben Jahre und zwei Tage nach der Lehman-Pleite, die zu einer Eskalation der weltweiten Finanzkrise führte.

Quelle: ntv.de, Reinhard Becker, rts

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