Wirtschaft

Welt-Systemstressindex Spiel auf Zeit

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Die Europäische Zentralbank kauft Zeit, die die Politik nicht nutzt. Wir brauchen endlich nachhaltige, strukturelle Lösungsansätze.

Mario Draghi, Chef der Europäischen Zentralbank, machte einen zufriedenen Eindruck auf der turnusmäßigen Pressekonferenz am vergangenen Donnerstagnachmittag in Frankfurt. Die EZB sieht die Ausgangslage der Eurozone zwar weiterhin kritisch und mit vielen Risiken gespickt, allerdings kann durch die milliardenschweren geldpolitischen Stimulationen das "Glas" eher als halb voll bezeichnet werden und gibt somit einen Anlass zu Hoffnung. Richtig ist, dass der Stress im europäischen sowie im globalen System sich jüngst reduziert hat und richtig ist auch, dass die Finanzierungsbedingungen sich weiter verbessert haben und die Eurozone in 2016 ein gesundes Wachstum erzielen sollte! Natürlich weiß man aber auch, dass diese Entwicklungen auf die neuen und alten geldpolitischen Maßnahmen der EZB zurückzuführen ist, so die Aussage von Dr. Markus C. Zschaber, Chef des Instituts für Kapitalmarktanalyse (IFK) in Köln, welches den "Welt-Systemstressindex" monatlich veröffentlicht.

Dr. Markus C. Zschaber

Dr. Markus C. Zschaber

Der Experte warnt allerdings, dass durch die Maßnahmen der EZB lediglich einmal mehr "Zeit" gekauft wurde und die Kosten für besagtes, erkauftes Zeitfenster jedes Mal ansteigen und man sich wohlmöglich in einem Kreislauf befindet, in dem es zu weiteren, noch größeren milliardenschweren Geldprogrammen kommt, um das System zu stabilisieren. Diese geldpolitischen Programme allerdings sind reale Lasten und dass darf nicht vergessen werden. Da die Politik schlichtweg nichts gegen die strukturellen Probleme, wie beispielsweise in Europa die Wettbewerbsfalle in denen sich die Mitgliedsstaaten weiterhin befinden, umsetzt, haben besagte Kosten leider auch nur einen sehr begrenzten Nutzen. "Solange immer nur versucht wird, die Symptome der Krise zu bekämpfen, ohne an die Ursachen heranzutreten, wird unser System nicht nur nicht gesunden, sondern zunehmend instabiler", so Zschaber weiter.

Bereits im Februar verwies das Kölner Institut für Kapitalmarktanalyse, kurz IFK, darauf, dass ein systemischer Schock, ausgelöst durch die negativen Wechselwirkungen zwischen den Finanzmärkten, der Realwirtschaft und der politischen Krisen, nur durch ein dynamisches Eingreifen der Notenbanken vorerst vermieden werden kann. Die Auslöser, welche zu den starken Schwankungen in den ersten Wochen des Jahres 2016 auf den Finanzmärkten geführt hatten, waren sehr vielschichtig. Die Wachstumsschwäche in China, die erste Zinserhöhung in den USA oder die vielen globalen konjunkturellen und politischen Risiken sind u.a. zu nennen.

Für das IFK war aber allerdings die qualitative Einordnung der Marktreaktionen von elementarer Bedeutung, denn was in den schwankungsstarken Zeiten im 1. Quartal 2016 erkannt werden konnte, war eine hohe positive Korrelation über alle Anlageklassen hinweg, außer bei den sogenannten sicheren Häfen, wie beispielsweise ausgesuchten Staatsanleihen und Gold. Dieses ließ auf eine sehr irrationale Fluchtbewegung der Anleger schließen und diese irrationalen Entwicklungen sind nicht ungefährlich für das System. "Fakt ist, Märkte haben die Macht eigene Realitäten zu schaffen, ist die Furcht und Angst zu ausgeprägt, können Liquiditäts- und Kapitalströme schlagartig versiegen, die essenziell für das Funktionieren der Realwirtschaft sind. Tritt eine solche Situation ein, haben wir eine Traktion auf die Realwirtschaft, sprich eine echte Ansteckung - die Gefahren dafür waren im Februar 2016 allgegenwärtig", führt Zschaber aus.

Der größte Stress, gerade in den finanziellen Strukturen, konnte im 1. Quartal 2016 in Europa und in Asien gemessen werden. Im Rahmen der Analyse zum "Welt-Systemstressindex" konnte bereits im Februar festgestellt werden, dass trotz der damaligen sehr schwierigen Gesamtgemengelage Möglichkeiten vorhanden seien, den multiplen Krisenherden zumindest temporär entgegenzuwirken. Die Vorstellung war, die damals negativ wirkenden Multiplikatoren dafür umzukehren und die EZB-Sitzung im März eine erste Vorlage für einen ‚Momentum-Change‘ dafür bieten könnte, so dass der systemische Stress abklingen kann.

Gleichzeitig müssten die Notenbanken wieder einen "analogen" Weg bestreiten, was bedeutet, dass die USA auf weitere Zinserhöhungen in 2016 und wahrscheinlich in 2017 verzichten muss. Die US-Volkswirtschaft war und ist natürlich von den internationalen Märkten abhängig, was bedeutet, dass die deflationären Entwicklungen in Asien und im Rest der Welt früher oder später auch in den USA ankommen werden und nicht unterschätzt werden sollten. Damit bestünde geldpolitisch ausreichend Spielraum für einen Verzicht von weiteren Zinserhöhungen. Zusätzlich müsse die EZB einen weiteren Maßnahmenkatalog vorstellen, welcher die Risikoprämien, sprich die Zinskosten weiter abmildert, sodass sich vor allem Unternehmen einfacher, effizienter und noch kostengünstiger in Europa refinanzieren können.

Ein Blick auf die letzten Wochen verdeutlicht, dass exakt diese Maßnahmen, welche durch den "Welt-Systemstressindex" präventiv verifiziert wurden, durch die Notenbanken ergriffen wurden. Die US-Notenbank hat ihre Zinsprojektionen deutlich zurückgenommen, sprich die Märkte von ihren Ängsten befreit und Mario Draghi hat die monetäre Feuerkraft der EZB nochmals deutlich ausgeweitet und wird neben verbrieften Staatsschulden auch verbriefte Unternehmenskredite aufkaufen und damit die Zinskosten reduzieren. Dies führte zu einem rasanten Absinken der weltweiten Stresskurve.

"Was wir jetzt aber brauchen sind endlich nachhaltige, strukturelle Lösungsansätze. Die Notenbanken haben noch einmal "Zeit für die Politik" gekauft. Diese Zeit muss endlich durch die Regierungen genutzt werden", so das IFK weiter. Fakt ist, die Krisen aus den letzten Jahren haben bereits Einfluss auf die Weltwirtschaft genommen.

Die Problematik hierbei ist, dass die Architektur der Weltwirtschaft als inhärent instabil gilt, da trotz der großen Krisen der Vergangenheit hohe gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte bestehen. Als ein Beispiel nennt man die hohen Leistungsbilanzunterschiede zwischen den internationalen Wirtschafts-räumen, die ein Absorbieren von exogenen und partikularen Krisen ohne weitere Ansteckung und Beschleunigung schlicht unmöglich werden lassen.

Die niedrigsten Zinslevels weltweit müssen eine realwirtschaftliche Traktion bekommen, in dem die Staaten Infrastruktur- bzw. Konjunkturpakte (Transportwege, Wohnimmobilien, Bildung, Umwelttechnologie, Gesundheitssysteme, Technologie etc.) finanzieren bzw. hier einen langfristigen Finanzierungsplan anlegen. Alleine die Ankündigung solcher Maßnahmen würde bereits für höhere Zuversicht sorgen. Höhere Investitionsströme seitens der Staaten sind notwendig.

Die Unternehmen werden zeitverzögert folgen. Dies gilt für die USA, für Asien und insbesondere für Europa. Das stärkt das Vertrauen in die Realwirtschaft und innerhalb der Gesellschaften und vertreibt die akuten Konjunkturängste.

Zschaber und sein Team bleiben sehr skeptisch, ob die Politik dies endlich verstanden hat, denn man sähe noch keine wirklichen Schritte, die die notwendigen Strukturveränderungen hervorbringen würden. Die Gefahr ist groß, dass die erkaufte Zeit durch die EZB & Co. wieder einmal realwirtschaftlich verpufft und wir keinen politischen Ausweg aus der Liquiditätsfalle finden. Dies würde bedeuten, dass bei einem nächsten potenziellen Krisenherd, vielleicht schon ein eventueller "Brexit", der systemische Stress wieder dynamisch ansteigt!

Dies könnte erneut die Weltkonjunktur abbremsen und regionalspezifische konjunkturelle Schäden verursachen, sofern nicht erneut die Notenbanken beherzt eingreifen. Diese Gefahr ist nicht zu unterschätzen. Vor allem, da die Weltwirtschaft noch viele andere Themen auf der Agenda stehen hat, wie die vielen geopolitischen Krisen, die hohe Staatsverschuldung der Industriestaaten bzw. in vielen Schwellenländern oder die Flüchtlingskrise in Europa, welche allesamt zu zusätzlichen übergeordneten systemischen Spannungen führen.

Die internationale Politik wäre insofern gut beraten, endlich Schritte einzuleiten, um die strukturellen Defizite, welche das Wachstum abbremsen und Investitionen abwürgen, zu bekämpfen. Nur dadurch würde die Zeit, welche durch die Notenbanken mit Milliarden-Summen erneut gekauft wurde, einen produktiven Nutzen erreichen.

Funktionsweise Welt-Systemstressindex:

Da sich Finanz-, Währungs- und realwirtschaftliche Krisen typischerweise deutlich voneinander unterscheiden, muss für die Identifikation von systemischen Risiken eine Vielzahl an Variablen dynamisch herangezogen werden, um eine Determination zu ermöglichen. Der "Welt-Systemstressindex" operationalisiert die Interdependenzen zwischen den Finanzmärkten und den makroökonomischen Entwicklungen auf Basis von Veränderungen bzw. der Veränderungsgeschwindigkeit. Bis zu 6500 Variablen werden für die weltweite Bewertung berücksichtigt. Der Index bietet damit ein Gesamtbild über die Verfassung und Anfälligkeit der Weltkonjunktur, der Weltfinanzmärkte sowie deren wechselseitige Abhängigkeit.

Indexstände oberhalb eines Niveaus von 20 Punkten (maximaler Stress 100 Punkte) bedeuten ein Stressniveau, welches bereits hohe Belastungen für die Realwirtschaft und die Finanzmärkte suggeriert. Bewegt sich die Stresskurve dagegen unterhalb einem Indexstand von -20 Punkten (minimaler Stress -100 Punkte) bedeutet dies, dass eine Entspannung erfolgt, in der ein Umfeld für positive Entwicklungen und Normalverteilung vorherrscht. Die Niveaus zwischen +20 und -20 quantifizieren das neutrale Umfeld. In diesem Bereich ist Wachsamkeit gefordert, da hier, je nach Richtung (zunehmender oder abnehmender Stress), dynamische Anpassungen in der Weltkonjunktur und an den Finanzmärkten bereits auftreten können.

Die "Vermögensverwaltungsges. Dr. Markus C. Zschaber mbH" und das "Institut für Kapitalmarktanalyse (IFK) Köln" stellen den Index monatlich exklusiv der "Wirtschaftswoche" und dem Nachrichtensender n-tv zur Verfügung. Informationen zum Index finden Sie unter www.zschaber.de und www.kapitalmarktanalyse.com

Quelle: ntv.de

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