Wirtschaft

Skandale, Pannen, Rückrufe "Autoindustrie feiert Jahr der Superlative"

Explodierende Airbags, schmutzige Auspuffe, Betrug in großem Stil: Das Autojahr 2015 hat einiges an Negativschlagzeilen zu bieten. Aber es ist auch ein absolutes Rekordjahr. Wie kommt das? Wer ist Gewinner, wer Verlierer? Gibt es Aufsteiger? Autoexperte Becker verrät es.

Explodierende Airbags, schmutzige Auspuffe, Manipulationen in ganz großem Stil: Das Autojahr 2015 hat einiges an Negativschlagzeilen zu bieten. Aber es ist auch das Jahr der IAA, Chefwechsel und diverser Modellvorstellungen. Was bleibt also am Ende? Wer ist Gewinner, wer Verlierer? Gibt es Aufsteiger und Absteiger? Autoexperte Helmut Becker verrät es im n-tv.de Interview.

n-tv.de: 2015 geht zu Ende - war es das von vielen vorhergesagte schwierige Jahr?

Helmut Becker schreibt als Autoexperte und Volkswirt für teleboerse.de und n-tv.de eine monatliche Kolumne rund um den Automarkt.

Helmut Becker schreibt als Autoexperte und Volkswirt für teleboerse.de und n-tv.de eine monatliche Kolumne rund um den Automarkt.

Helmut Becker: Nein, fast alle Experten haben sich geirrt!  Das Jahr hat sich deutlich besser entwickelt. Für die deutsche Automobilindustrie war es ein Jahr der Superlative.

Inwiefern?

Alles ist gesteigert worden: Produktion, Absatz, Umsatz, Beschäftigung, Ergebnis. Alles in allem war es für die deutsche Autoindustrie ein historisches Jahr - das beste Jahr ihrer über 100-jährigen Geschichte.

Was waren die Gründe dafür?

Vor allem die erwartet positive Entwicklung der großen Absatzmärkte, also China und USA. Diese konnten ihr Wachstum fortsetzen, auch wenn es sich in China in der zweiten Jahreshälfte vorläufig etwas verlangsamt hat. Nichtsdestotrotz: Alle großen Absatzmärkte haben neue Rekorde auf- oder zumindest alte Bestmarken eingestellt. China hat zum ersten Mal ein Absatzvolumen von 19 Millionen Einheiten erreicht, die USA von mehr als 17 Millionen - ein Niveau, das zuletzt um 2000 herum erreicht worden ist.

Wie hat sich der westeuropäische Markt entwickelt?

Auch dieser zeigte die von uns erwartete deutliche Erholung. Es bestand ja auch ein erheblicher Nachholbedarf nach den Krisenjahren zuvor. In Italien, Irland oder Portugal ergaben sich plötzlich hohe zweistellige Zuwachsraten - so etwas haben die Länder zuvor nie gekannt, allenfalls im Abschwung. Rund 13 Millionen Neuzulassungen 2015 sind auch in Westeuropa ein Bestwert, der lange nicht erreicht worden ist.

Welche Märkte haben Probleme bereitet?

Probleme gab es vor allem bei den Absatzmärkten, die mit politisch schwierigen Rahmenbedingungen zu kämpfen hatten. Zu nennen wären da etwa Brasilien und in Europa Russland. Dort brachen die Verkaufszahlen teilweise weiter zweistellig ein. Mit Problemen sah sich auch der japanische Markt konfrontiert, da die Konjunktur trotz aller geldpolitischen und wirtschaftspolitischen Initiativen der Regierung nicht nachhaltig in Fahrt gekommen ist. Und wohl auch nicht mehr wird.

In Deutschland werden es 3,2 Millionen Neuzulassungen in diesem Jahr. Ist das enttäuschend oder kann die Branche das als Erfolg verbuchen?

Das ist ganz klar ein großer Erfolg für die Branche - auch wenn sie dafür nichts kann. Und es zeigt zum einen, wie stabil die Rahmenbedingungen hierzulande sind und zum anderen, was so eine Konstellation für den Automarkt bedeutet. Wir befinden uns im dritten Jahr einer Aufwärtsbewegung und haben alte Werte von vor 15 Jahren wieder erreicht. Das signalisiert eine Erholung im Verlauf zwar, aber kein Wachstum im Trend.

Es hätten wohl noch mehr Neuzulassungen sein können, aber der Abgasskandal des Volkswagen-Konzerns bremste am Ende doch etwas. Wie schwer wiegt der milliardenschwere Betrug für die Wolfsburger?

Da muss ich Sie korrigieren: Dem deutschen Autokäufer war der Abgasskandal im VW-Konzern ziemlich egal. Es hätte ja genügend Kauf-Alternativen gegeben - auch zu günstigen Preisen. Nein, auf den laufenden Absatz hatte der Skandal nur wenig Einfluss, selbst der medial vielfach beschworene Einbruch bei den VW-Zahlen ist ausgeblieben und wird meiner Meinung nach so auch nicht kommen. Der Grund ist einfach: Die Autokäufer schauen in erster Linie auf Qualität, Zuverlässigkeit und Wiederverkaufswert, nicht unbedingt auf die Abgaswerte. Man kann daher im schlimmsten Fall von einer vorübergehenden Delle sprechen.

Vor dem Abgasskandal gab es zudem Personalquerelen bei VW, einen Machtkampf von Ferdinand Piëch mit dem damaligen Konzernchef Martin Winterkorn. Die "Automobilwoche" spricht von einem "annus horribilis" für den Konzern. Hat das Image der Wolfsburger Schaden genommen im Jahr 2015?

Der Konzern ist zwar seit Wochen in den Negativschlagzeilen, einen nachhaltigen Imageschaden sehe ich aber nicht. Allerdings lässt sich der Image-Wert eines Unternehmens nur schwierig messen, auch eventuelle Veränderungen sind nur schwer klassifizierbar. Die Qualität der Fahrzeuge stimmt, zehn Millionen verkaufte Fahrzeuge sind ein klarer Beleg dafür. Und im Übrigen mag die heftige Selbstreinigung in einem solch verkrusteten Konzern wie VW in der Öffentlichkeit sogar mit Wohlgefallen aufgenommen werden, bei den geknechteten Zulieferern mit Sicherheit.

Hat der deutsche Automobilbau negative Folgen von all den Querelen und Skandalen davongetragen?

Nein. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass die deutsche Automobilindustrie aus diesem Skandal gestärkt hervorgehen wird.

Inwiefern?

Ganz einfach: Die deutsche Motorentechnologie ist ja schon Spitze, ob Diesel oder Verbrenner. Die gesamte Branche arbeitet nun mit Hochdruck daran, diese Schwachstelle bei den Abgaswerten zu beseitigen. Die Motoren werden emissionstechnisch weiter entwickelt, noch besser gemacht. Das Gleiche gilt für die deutsche Dieseltechnik, die bereits jetzt schon 20 Prozent Verbrauchsvorteile und 10 Prozent Abgasvorteile gegenüber dem herkömmlichen Benzinmotor hat.

Wer profitiert von dem VW-Skandal? Sind es andere Hersteller, andere Motorentechnologien - oder gar der Kunde?

Profitieren wird natürlich die Umwelt, denn die Abgaswerte werden künftig deutlich niedriger sein als bisher. Die Motorentechnologie wird ebenfalls profitieren, denn es werden weiterhin Milliarden in deren Entwicklung fließen. Der Kunde profitiert auch, denn er bekommt schlichtweg ein besseres, umweltgerechteres Auto. Allerdings muss er dann dafür wohl auch tiefer in die Tasche greifen.

Welcher Autohersteller hat im abgelaufenen Jahr noch für Furore gesorgt? Negativ oder positiv?

Negativ war es Volkswagen. Positiv war es vor allem Daimler. Der Konzern hat sich deutlich vom Rivalen Audi abgesetzt und an den Premium-Platzhirsch BMW herangepirscht.

Und Opel? Immerhin konnte die General-Motors-Tochter mit dem neuen Astra punkten.

Opel ist das beste Beispiel für eine Turnaround-Story. Durch Managementfehler heruntergewirtschaftet, startet der Autobauer nun wieder durch. Der Absatz legt deutlich zu. Allerdings: Noch fährt man nicht nur auf vier Rädern, sondern auch mit tiefroten Zahlen. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich das vielleicht sogar schon im kommenden Jahr ändern wird - auch dank der neuen Modelle.

Gibt es für Sie einen "Hersteller des Jahres"?

Wenn es nicht so abgedroschen wäre und ich mich nicht wiederholen würde: Das ist ganz klar Daimler. Die erfolgreiche Modelloffensive der vergangenen Jahre, die Abkehr vom konservativ geprägten Image hin zu frischer Jugendlich- und gediegener Sportlichkeit und die damit verbundene Revolution im Denken- das ist schon sehr bemerkenswert. Daimler erntet nun die Früchte der Anstrengungen der vergangenen Jahre, vor allem auch in China, wo in der Vergangenheit horrende Vertriebsfehler gemacht worden sind. Dass Daimler im kommenden Jahr wieder die Nummer Eins unter den Premiumherstellern sein wird, ist für mich keine Frage.

Gibt es einen "Aufsteiger des Jahres"?

Hier könnte man Jaguar nennen. Der Autobauer war von seinen Absatzzahlen her gesehen fast tot. Dank der "Speth-Schicht" des neuen Managements und gepampert von den Milliarden des neuen Eigentümers Tata ist es Jaguar gelungen, schnellstmöglich eine neue Modelpalette aus dem Boden zu stampfen, mit durchaus attraktiven und innovativen Technologien. Aber sich in einem gesättigten Markt durchzusetzen, ist für einen Newcomer sehr schwer. Das braucht Zeit - und noch mehr Geld und Innovationen, als die drei deutschen Marktführer, BMW, Daimler und Audi eh schon aufwenden.

Bliebe noch der "Absteiger des Jahres"? War das VW?

Nein, auf keinen Fall. Für VW ist der Abgasskandal ein heilsamer Schock, längst überfällig. Über Jahrzehnte verhärtete, ja 'verharzte' Konzern- und Kommandostrukturen können nun aufgebrochen werden. Dazu braucht es ein solchen Schocks von außen, von innen heraus ist das sonst kaum möglich. Der Machtkampf Piëch-Winterkorn hat das ja gezeigt: Piëch wollte eine Änderung von oben durchsetzen, das ist grandios gescheitert. Von daher brauchte es diesen Abgasskandal-Schock, um den schweren Tanker Volkswagen in eine neue Richtung zu bringen. Einen "Absteiger des Jahres" sehe ich nicht.

Mit Helmut Becker sprach Thomas Badtke

Den Ausblick für das Autojahr 2016 lesen sie hier am 11. Januar 2016.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen