Wirtschaft

Der Bosporus aus Anlegersicht Parlamentswahl in der Türkei

Die Türkei wählt am Sonntag ein neues Parlament. Auch wenn es politisch um sehr viel geht, ist der Wahlausgang nur zweitrangig. Was das Land wirklich braucht, ist klar.

Bei der Parlamentswahl am Sonntag geht es um die politische Weichenstellung in der Türkei. Mit einer Zweidrittelmehrheit der regierenden AKP will diese die Verfassung ändern und Präsident Erdogan mehr Macht verleihen. Nach letzten Meinungsumfragen dürfte die Wahl äußerst jedoch knapp ausfallen. Sollte die kurdische Partei HDP über die 10 Prozentmarke kommen, wäre eine Koalitionsregierung wahrscheinlich. Ausgerechnet Wirtschaftsthemen überlagern den Wahlkampf und könnten die Alleinherrschaft der AKP beenden.

Wirtschaftswachstum verlangsamt sich

Seit die AKP 2002 alleine regiert, hat die Türkei einen noch nie dagewesenen Wirtschaftsboom erlebt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat sich in diesem Zeitraum vervierfacht und die Realeinkommen sind um 50 Prozent gestiegen. Mittlerweile rangiert das Land auf Platz 17 der größten Volkswirtschaften der Welt. Aber die aktuelle konjunkturelle Lage ist eingetrübt. Während die Wirtschaft seit der AKP-Regierungsübernahme komfortabel um über fünf Prozent pro Jahr gewachsen ist und sogar in 2010 und 2011 um 9,2, respektive 8,8 Prozent zulegen konnte, herrscht seit 2012 Tristesse. Das Wachstum verharrt unter fünf Prozent und für dieses Jahr prognostiziert der Internationale Währungsfonds sogar nur 3,1 Prozent. Diese Raten reichen nicht aus, um der stetig wachsenden jungen, arbeitsfähigen Bevölkerung ausreichend Arbeit zu geben. Die Arbeitslosenquote ist vom Tiefststand bei 8,0 Prozent Mitte 2012 auf aktuell 11,2 Prozent angestiegen, was einem Sechsjahreshoch entspricht. Die Unzufriedenheit wächst.

Abhängigkeit von ausländischem Kapital

Das Hauptproblem ist das chronische Leistungsbilanzdefizit. Letztes Jahr betrug es 5,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Rund 50 Prozent des Defizits ist auf Rohstoffimporte zurückzuführen. Um das Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren, ist die Türkei aufgrund einer geringen eigenen Sparquote auf ausländisches Kapital angewiesen. Innerhalb der letzten zehn Jahre sind rund 400 Milliarden US-Dollar in die Türkei geflossen, die über Kredite den Konsum und den Bausektor finanziert haben. Inflationsbereinigt haben sich die privaten Schulden seit 2004 verfünffacht. Da rund 70 Prozent des BIPs auf dem privaten Konsum basieren, könnte der Abzug ausländischen Kapitals eine Abwärtsspirale auslösen: weniger Konsum, geringeres Wirtschaftswachstum, höhere Arbeitslosigkeit, rückläufige Kreditvergabe - das alles könnte verheerende Folgen haben.

Einen ersten Vorgeschmack eines solchen Szenarios hat die Türkei in 2013 bekommen. Mit Ankündigung durch die US-Notenbank, die Anleihenankäufe zurückzufahren, kletterten die Zinsen in den USA. Als Konsequenz zogen Investoren ihr Kapital aus Anlageregionen wie der Türkei ab und brachten ihr Geld nach Hause. Die Folge: Die Währung und alle Anlageklassen mit kollabierten. Erst massive Leitzinsanhebungen, die Entspannung der innenpolitischen Lage sowie der sinkende Ölpreis haben das Kapital zurück in die Türkei fließen lassen und das Leistungsbilanzdefizit verringert. Auch die abwertende Lira trug zu einer Steigerung der Exporte in 2014 bei, so dass sich das Handelsbilanzdefizit um 15 Prozent verringerte.

Türkische Lira ist ein Warnzeichen

Diese vorübergehende Beruhigung wurde jedoch nicht dazu genutzt, tiefgreifende Veränderungen durchzusetzen. Vor den Präsidentschaftswahlen im Sommer 2014 und den jetzt anstehenden Parlamentswahlen wollte Präsident Erdogan das Wahlvolk mit Reformen nicht verärgern. Aber der erneute Fall der Türkischen Lira in diesem Jahr gegenüber fast allen Währungen spricht Bände. Seit Jahresanfang verlor die Landeswährung gegenüber dem US-Dollar 9,2 Prozent und fiel auf ein neues Rekordtief - gegenüber dem Euro war es ein Minus von 6,2 Prozent. Die wirtschaftlichen Probleme der Türkei gilt es daher, nach den Wahlen anzugehen.

Wahlausgang könnte Stabilität gefährden

Marktbeobachter dürften den Ausgang der Parlamentswahl gespannt verfolgen. Bleibt es bei der absoluten Mehrheit für die alleinregierende AKP, dürfte es ruhig an den Finanzmärkten bleiben. Denn in diesem Fall gibt es eine Regierung, die die Möglichkeiten hat, notwendige Wirtschaftsreformen durchzuführen. Sollte es zu einer Zweidrittelmehrheit reichen, könnte die zunehmende Machtentfaltung Erdogans jedoch einige Investoren verschrecken. Es besteht die Möglichkeit, dass sie kurzfristig Kapital abziehen. Langfristig dürfte der Markt aber auch einem deutlichen Wahlsieg der AKP wohlwollend gegenüber stimmen. Die Partei steht für den Wirtschaftsboom des vergangenen Jahrzehnts; sie gilt als Garant für Stabilität.

Wird dagegen eine Koalitionsregierung erforderlich, könnten die innenpolitischen Probleme zunehmen. Dann dürften langwierige Verfahren und verwässerte Reformen Realität werden. Sollten ausländische Investoren dies als Instabilität werten, könnte ein schneller Abzug von Kapital die Türkei vor sehr große Probleme stellen.

Quelle: ntv.de

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