Wirtschaft

Zu viel Chaos in Industriestaaten? Die Rückkehr der Schwellenländer

Wer zu Jahresbeginn in brasilianische Aktien investierte, darf sich über einen feinen Börsenerfolg freuen.

Wer zu Jahresbeginn in brasilianische Aktien investierte, darf sich über einen feinen Börsenerfolg freuen.

(Foto: REUTERS)

In aufstrebende Wirtschaftsnationen investieren ist wieder angesagt. Das überrascht, denn Länder wie Brasilien oder Russland gelten nicht gerade als Hort der Stabilität. Die Gunst der Anleger hat Gründe - bleibt aber riskant.

Anlegern juckt es bei Schwellenländern wieder in den Fingern. Kein Wunder. Auf der einen Seite stehen der führende brasilianische Aktienindex Bovespa, der dieses Jahr 33 Prozent zugelegt hat, und der russische Leitindex RTS, der es bereits auf 28 Prozent schaffte. Auf der anderen der amerikanische Nasdaq-Index, der bescheidene fünf Prozent zugelegt, sowie der EuroStoxx50, der gar kein Plus vorzuweisen hat - er liegt knapp zehn Prozent niedriger als zu Jahresanfang.

Vor allem die langfristige Kursentwicklung an diesen Börsen regt derzeit die Fantasien der Anleger an. Da gibt es nämlich noch viel Potenzial nach oben. Vor fünf Jahren notierte Brasiliens Börse 30 und Russlands sogar 50 Prozent höher. Auch den gecrashten Börsen der Volksrepublik China trauen Beobachter zu, den Kurs-Turbo wieder anzuschmeißen. Der Kursverfall sei über Gebühr gewesen, heißt es. 100 Prozent Plus in einem Jahr sei für den Hangseng nicht unmöglich, das habe er mehrfach bewiesen. Ist dies das große Comeback der Schwellenländer?

"Seit Anfang zweiten Quartal beobachten wir einen zunehmenden Trend unter Anlegern, in Schwellenländer zu investieren", sagt der Emerging-Market-Experte Michael Bolliger von der UBS dem Schweizer Magazin "Cash". Amerika und Europa machten es den Finanzmärkten derzeit nicht leicht.

In Europa dümpelt das Wachstum. Was der Brexit noch bringen wird, ist ungewiss. Genauso wie die Zukunft von Italiens Banken. In den USA sieht es nicht besser aus: Die Lage in der Wirtschaft gibt Rätsel auf, die angekündigte Zinsanhebung der Fed ist auf die lange Bank geschoben. Und was der nächste US-Präsident, der möglicherweise Donald Trump heißt, bringen wird, ist auch völlig offen.

Die Schwellenländer sähen angesichts des Chaos' doch gar nicht mal so schlecht aus, sagt Bolliger. Besonders hoch im Kurs stehen bei Anlegern Investments in der Türkei und Indonesien. Seit Februar dieses Jahres wurden laut Experten 21 Milliarden US-Dollar in Indonesien angelegt, davon neun Milliarden allein im Juli. "Das ist das höchste Volumen an Zuflüssen in Schwellenmärkte nach der Türkei", sagt Maarten-Jan Bakkum, Senior Emerging Markets Strategist bei NN Investment Partners "GodemodeTrader".

Wie stark sind die Schwellenstaaten wirklich?

Doch der Run auf die aufstrebenden Staaten wirft Fragen zur eigentlichen Stärke dieser Länder auf. Das wiedererwachte Interesse der internationalen Investoren habe wenig damit zu tun, warnt Bakkum. Tatsächlich haben die Schwellenländer in den vergangenen Jahren vor allem vom billigen Notenbankgeld profitiert. Es ist zum weltweit wichtigsten Schmierstoff der Börsen geworden. Das große Kapital wandert dorthin, wo die Zinsniveaus höher sind, als es die US-Notenbank Fed oder die Europäische Zentralbank (EZB) derzeit für geboten halten. Das hat den Wirtschaften der aufstrebenden Ländern gut getan.

Aber neben dem Notenbankgeld gibt es aber noch mehr, was die Wachstumsfantasien der Anleger beflügelt. So hat sich der kollabierte Rohstoffmarkt dieses Jahr gefangen, seit Februar erholen sich die Kurse. Rohöl ist wieder 30 Prozent teurer. Rohstoffexporteure wie Russland und Brasilien profitieren davon. Und die weiteren Aussichten sind gut. Denn laut Studien dürften die Rohstoffpreise weiter steigen.

Fast unbemerkt haben die Staaten zumindest einen Teil ihrer Probleme gelöst. Viele waren in den vergangenen Jahren gezwungen, Reformen einzuleiten. Es gibt kleine wirtschaftliche und politische Fortschritte. Sowohl Russland, als auch Brasilien liefern inzwischen besser als erwartete Wachstumszahlen. Vor allem das mit 200 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land Südamerikas sorgt bei Anlegern für Fantasie. Noch vor Beginn der Paralympischen Spiele am 7. September will Interimspräsident Michel Temer als regulärer Präsident sein Amt antreten. Temer gilt als wirtschaftsfreundlich, das dürfte dem Export und der Industrieproduktion einen positiven Schub geben.

Volkswirte erwarten für Brasilien im kommenden Jahr ein Mini-Wachstum von 0,4 Prozent. Optimisten halten gar ein Prozent Plus für möglich. Die siebtgrößte Volkswirtschaft der Erde steckt zwar immer noch in einer schweren Rezession, im vergangenen Jahr schrumpfte die Wirtschaft wieder um 3,8 Prozent. Die Börsen aber handeln die Zukunft. Wenn die Wachstumszahlen gemeldet werden, hat die Börse sie meistens schon "eingepreist". Nach Aussage des Schwellenland-Experten Bollinger überraschen mittlerweile auch nicht nur die Wirtschaftsdaten, sondern auch die Unternehmensgewinne in Brasilien und Russland positiv.

Fundamentaldaten vor Politik

Auch rund um Brasilien geht es voran: Chile und Mexiko stehen heute ebenfalls besser da als erwartet. Indien steht ebenfalls auf dem Zettel der Anleger. Der Subkontinent hat nicht nur eine handlungsfähige Regierung, sondern glänzt durch signifikante Infrastrukturinvestitionen und Reformen. Gleichzeitig haben sich die Befürchtungen von einem China-Crash nicht bewahrheitet. Das Wirtschaftswachstum pegelt sich bei knapp sieben Prozent ein. Die Regierung in Peking signalisiert mit ihrer Geld- und Fiskalpolitik, dass sie den Markt stützt. Das wirkt wie ein Konjunkturpaket und hält das Wachstum stabil. Und es gibt noch mehr Gründe, die Investoren auf Schwellenländer setzen lassen.

So haben viele der Währungen in letzter Zeit erheblich abgewertet. Das macht die Volkswirtschaften wettbewerbsfähiger und schlägt sich positiv in der Handelsbilanz nieder. Offene politische Konflikte, wie mit der Türkei und Russland, die Skeptiker der Schwellenländer-Hausse bereits den nächsten Crash heraufbeschwören lassen, sollten Anleger nicht überbewerten, sagt der Anleihestratege Xavier Baraton von der britischen Bank HSBC der "Börsenwoche": "Es ist ein Aspekt unter vielen." Wichtiger sei der Blick auf die Fundamentaldaten. "Etwa, ob das Land seine Schulden bedienen kann oder wie die Leistungsbilanz aussieht."

Genau hier schlummert das größte Problem der Schwellenländer, dessen sich Investoren bewusst sein müssen. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) warnt dringend vor den Schulden, die viele Schwellenländer aufgetürmt haben. Vor zehn Jahren betrugen ihre Schulden - ohne Banken - 60 Prozent der Wirtschaftsleistung. Bis Ende 2015 stieg dieser Wert laut BIZ auf 110 Prozent. Industrieländer erreichen im Schnitt 90 Prozent.

Die offene Schuldenrechnung

Bedenklich sei die Situation dabei vor allem in den großen Staaten wie China, Brasilien und der Türkei, wie es heißt. Den Staaten stehen vor allem zwei Probleme ins Haus: Dreht die Fed an der Zinsschraube und steigen die Leitzinsen, wird zum einen das Kapital, das sich bei ihnen gesammelt hat, wieder abgezogen, weil die Risiken in den westlichen Ländern niedriger sind.

Zum anderen wird ihr Schuldendienst teurer. Denn höhere Zinsen führen zu einer Aufwertung des Dollar und einer Abwertung der Währungen der Schwellenländer. Die BIZ schätzt, dass die Emerging Markets mehr als drei Billionen Dollar Kredite aufgenommen haben. Anleger müssen fürchten, dass die Kurse einbrechen. Diejenigen, die Papiere in Fremdwährung gekauft haben, müssen doppelt um ihren Einsatz fürchten.

In der Bewertung der Schwellenländer gibt es noch ein Problem: die mögliche Rolle rückwärts bei der Globalisierung, die sich angeblich andeutet. Militärische Konflikte, Rezession, Korruptionskrisen - das alles lasse viele Firmen mittlerweile zögern, sich in diesen Ländern zu engagieren, schreibt die DZ Bank. Hinzu komme die Sättigung von Märkten und technische Neuerungen, die die Entwicklung zurückdrehen. "Seit der Finanzkrise hat sich nicht nur das weltweite Wachstum, sondern auch die Zunahme des internationalen Handels verlangsamt", warnt Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ Bank.

Die meisten Unternehmen, die Vorteile aus einer Fertigung in Billiglohnländern ziehen können, haben die Produktion demnach bereits verlagert. Adidas zum Beispiel lässt seine Produktion wieder in Deutschland anlaufen. Sie kommt heute praktisch ohne Arbeiter aus, die Schuhe werden größtenteils von Robotern gefertigt. Für Schwellenländer, wo bisher die Werkbänke der Industriestaaten standen, brechen möglicherweise völlig neue Zeiten an.

Quelle: ntv.de

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