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Interview mit David Graeber "Kapitalismus loswerden"

Animiert zu Diskussionen: David Graeber

Animiert zu Diskussionen: David Graeber

Mit seinen Appellen für einen weltweit Schuldenerlass sorgt der Anthropologe und "Occupy"-Aktivist David Graeber für lebhafte Diskussionen - auch unter den n-tv.de-Lesern. Von "Solchen Unsinn liest man selten" bis hin zu "Alles genau richtig", lauten die Kommentare zu "David Graeber ruft zum Ablassjahr auf". Auf vielfachen Wunsch hier das Interview mit David Graeber im Wortlaut.

David Graeber

Schulden - Die ersten 5000 Jahre

Was macht den Begriff Schulden so seltsam mächtig? Warum gilt es als unmoralisch, Schulden nicht zurückzuzahlen? Diesen Fragen geht David Graeber in seinem Buch nach. Dafür kehrt er an die Anfänge des Kreditwesens zurück und stellt bei seiner Zeitreise fest: Von der Antike bis zur Gegenwart sind revolutionäre Bewegungen immer in Schuldenkrisen entstanden. Die meisten modernen Geld- und Kredittheorien sind Mythen, die die Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen vorantreiben.

David Graeber wurde 1961 in den Vereinigten Staaten geboren und unterrichtete bis zu seiner umstrittenen Entlassung 2007 als Anthropologe in Yale. Seither lehrt er am Goldsmith-College in London. Graeber ist bekennender Anarchist und Mitglied der "Industrial Workers of the World". Sein Vater hat im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft und er selbst fast zwei Jahre in einer direkten Demokratie praktizierenden Gemeinschaft auf Madagaskar gelebt und geforscht.

Graeber ist ein Vordenker der Occupy-Bewegung und hat den Slogan "We are the 99%" mitgeprägt. Von ihm stamme das "99%"; das "we" und das "are the" hätten andere beigesteuert, so Graeber. In "Inside Occupy", das dieser Tage zeitgleich mit "Schulden" in Deutschland erschienen ist, liefert David Graeber weitere Innenansichten der Protestbewegung.

n-tv.de: Herr Graeber, Ihr Buch wird in den Medien hierzulande als das wichtigste Buch des Jahres gefeiert.

Oh, wirklich?

Außerdem kann man derzeit kaum eine Zeitung aufschlagen, ohne etwas über Sie zu lesen.

Ich weiß, das ist seltsam, nicht wahr? Glücklicherweise kann ich kein Deutsch lesen. (lacht)

Es ist übrigens auch schwierig, an das Buch zu kommen, ich habe es auch erst gestern erhalten.

Lassen Sie mich sehen, wie viel Sie in einer Nacht lesen konnten! (holt das Buch aus der offen vor ihm stehenden Tasche und sucht das Lesezeichen)

Die ersten drei Kapitel und den Schluss.

Da können Sie sich auf was freuen, der Mittelteil ist der Beste! (lacht)

Haben Sie eine solche Reaktion erwartet?

Nicht ganz in diesem Ausmaß. Es ist, ehrlich gesagt, faszinierend für mich. Ich bin gleichzeitig Autor, Aktivist und Sozialwissenschaftler, also bin ich immer dabei, hin und herzuspringen. Als ich beispielsweise begann, einige Dinge für "Occupy" zu organisieren, habe ich meine ganze Zeit darauf verwandt, diese Sache zu planen. Und als es funktionierte, war ich so überrascht, dass ich einen Schritt zurückgetreten bin, meinen Sozialwissenschaftler-Kopf eingeschaltet und mich gefragt habe: Warum hat das jetzt funktioniert? Bei diesem ganzen öffentlichen Interesse für das Buch ist es im Grunde dasselbe.

Haben Sie eine Theorie, warum es gerade jetzt so gut funktioniert? Ist es nur der Inhalt, oder hat das auch mit dem Timing zu tun?

Es muss etwas in dieser Richtung sein, ja. Aber ich weiß nicht genug über die politische oder die Medienlandschaft in Deutschland, um wirklich zu verstehen, warum es ein so guter Zeitpunkt für das Buch hier war. Aber man hat ganz klar das Gefühl, dass dem so ist.

Wann haben Sie angefangen, das Buch zu schreiben?

Tatsächlich habe ich bereits vor 2008 angefangen, das Buch zu schreiben. Etwa im Jahr 2007, also vor dem Crash. Aber wir wussten alle, dass es passieren würde. Es war kein Geheimnis für jeden, der es tatsächlich wissen wollte. Ich wusste, dass die Lage dramatisch werden würde. Und ich war, vorwiegend aus politischen Gründen, mehr und mehr fasziniert vom Thema Schulden. Jede Menge politische Diskussionen und Kampagnen schienen sich um das Thema zu ranken, aber niemand wusste wirklich, was es war. Oder woher es kam. Es ist seltsam, dass sich bis dahin niemand mit der Geschichte der Schulden beschäftigt hatte. Das ist überraschend, denn es gibt nicht viele Dinge, über die noch niemand eine Geschichte geschrieben hat. Es gibt die Geschichte des Salzes, ein Franzose hat sogar eine "History of Shit" geschrieben.

Es gab sehr schnell eine deutsche Übersetzung für Ihr Buch.

Ja. Es war die erste Übersetzung.

Im Buch stehen die Namen von drei Übersetzern.

Ich habe gehört, es waren sogar vier.

Ein weiterer Hinweis darauf, dass der Zeitpunkt der Veröffentlichung wirklich wichtig war?

Ich denke schon. Es ist offenkundig, dass das Thema "Die Moral von Schulden" besonders in Deutschland Ängste auslöst, denn in gewisser Hinsicht haben wir es hier mit einem Land zu tun, dass sich politisch in eine Falle bringt, in dem es einfach die Moral beim Thema Schulden für sich beansprucht. Und eher sarkastisch als ökonomisch gesprochen, haben sich die Deutschen in eine Lage gebracht, in der sie die EU zerstören könnten, was natürlich eine große Katastrophe für sie wäre. Indem das Buch darauf hinweist, dass das ein moralisches und kein ökonomisches Problem ist, liefert es eine Perspektive für diese Lage. Deshalb ist es vielleicht nicht überraschend, dass einige Menschen in dem Buch vielleicht einen Ausweg aus dieser Situation suchen.

Nicht nur Aktivisten oder eher links orientierte Wähler spricht das Buch an, sondern auch Finanzexperten …

Interessant, oder? Ich glaube, das liegt an verschiedenen Faktoren. Ich habe einen kleinen Eindruck davon in den USA erhalten, wo ich mit Leuten vom "Wall Street Journal" bis hin zu Federal Reserve geredet habe. Kaum jemand glaubt noch an die langfristige Funktionsfähigkeit des kapitalistischen Systems. Das führt zu einem generellen Interesse an dem Thema Schulden.

Sie geben aber keine Handlungsanweisungen in dem Buch.

Im Buch habe ich versucht, Perspektiven aufzuzeigen, ich habe keine Lösungen beschrieben. Ich sagte mir, wir müssen dieses Problem mit dem angemessenen historischen Rahmen angehen. Lass uns diesen Rahmen so weit wie möglich ziehen, um zu sehen, ob wir etwas erkennen können, das wir sonst nicht sehen – und ja, tatsächlich können wir das. Also ich glaube, diese Art des Denkens gefiel den Menschen, die sich unter den gegebenen Bedingungen gefangen fühlten – auch wenn sie ehrlicherweise selbst zum größten Teil für Verarmung unserer politischen Visionen verantwortlich waren.

In Deutschland fühlen sich viele sehr unwohl mit der Schuldenkrise, sie haben das Gefühl, das Geld geht direkt aus ihrer Hosentasche nach Griechenland, Italien etc. und das bereitet den Weg für viele Populisten. Es fühlt sich so an, als ob Schulden nicht nur einen moralischen, sondern vor allem einen emotionalen Aspekt haben.

Präzise. Deshalb ist die Schuldensprache so effektiv als ideologisches Werkzeug. Was in Europa passiert, ist, dass die Länder versuchen Schuldbeziehungen einzusetzen, um Kontrolle zu gewinnen. Früher wären das militärische Maßnahmen gewesen. Aber sie kleiden es in Worte und sagen, wir tun ihnen einen Gefallen. Leute sagen so verrückte Sachen wie: "Wir geben Griechenland Geld." Nun, Geld leihen ist nicht gerade Geld geben. Tatsächlich kriegst du sogar mehr zurück, als du gegeben hast.

Eine der Aussagen des Buches ist, dass ein System ohne Schulden effizienter ist. Aber für viele Ökonomen sind Kredite eine Voraussetzung für den Handel. Unternehmen können oft nur produzieren, wenn sie im Voraus Geld erhalten, oder sie müssen sich Geld leihen, um die Produktion zu starten. Wie würde das ohne Schulden gehen?

Ich habe, genau genommen, nicht vorgeschlagen, irgendeine Kreditvergabe illegal zu machen. Ich habe auf historische Lösungen für das Problem von Schuldenkrisen hingewiesen. Zinsen und Schulden gab es schon im alten Mesopotamien, dort kam es jedoch immer wieder zu periodischen Schuldenerlässen. Die Schulden wurden gemacht, angehäuft, führten zu Krisen und wurden schließlich erlassen. Und dann fing wieder alles von vorne an. Das war die ursprüngliche Idee. Wir haben aber nur das halbe Paket exportiert. (schnaubt belustigt durch die Nase) Es hat also 2000 Jahre gedauert, bis wir festgestellt haben, dass wir das alles falsch verstanden haben.

In jeder geschichtlichen Periode, in der virtuelles Kreditgeld dominierte, brauchte man eine Art Mechanismus, um dafür zu sorgen, dass die ganze Sache nicht außer Kontrolle gerät. Barzahlungen sind tatsächlich eine spätere Entwicklung, die originäre Form von Geld ähnelte mehr dem, was wir heute haben, dem virtuellen Geld. Natürlich keine Computer oder Plastikkarten, aber die Menschen führten Konten und wussten, was wem gehörte. Zinsen oder Spesenkonten sind also deutlich älter als eine tatsächliche, physische Währung und zwar um mehrere tausend Jahre. Wenn man diese Art von virtuellem Geld benutzt, nimmt man Geld nicht mehr als eine physische Sache wahr, sondern als soziales Arrangement, ein Versprechen, könnte man sagen.

Wenn das aber der Fall ist, können diese Dinge offensichtlich umgeordnet und kontrolliert werden. Es muss auch eine Art soziale Kontrolle geben, sonst würde jeder verrückt spielen und bis auf vielleicht einen winzigen Teil würden alle in Schulden versinken. Diese Minderheit würde dann den Rest versklaven. Es gab dafür unterschiedliche Kontrollmechanismen in den verschiedenen historischen Epochen. Die Menschen waren in dieser Hinsicht sehr kreativ. Manchmal hatten sie wie in Mesopotamien eine Annullierung, der König kam und klärte das. In biblischen Zeiten gab es einen periodischen Schuldenerlass, das sogenannte Ablassjahr alle sieben bis 49 Jahre. Im Mittelalter haben sie überwiegend einen völlig anderen Weg genommen, da waren Zinsraten komplett illegal. Es gab also immer irgendeine Lösung.

Wir haben erst seit etwa 40 Jahren wieder ein wirklich virtuelles Geldsystem, in der Regel wird ab 1971 gezählt, als die USA den Dollar vom Gold abgekoppelten. Seit damals gab es rapide Veränderungen, und heutzutage werden die meisten Transaktionen via Kredit abgewickelt, besonders in den USA.

Die Welt hat sich also sehr schnell verändert. Was wir aber tun müssten, wenn wir den historischen Normen folgen würden, ist ein Mittel gegen diese Überlastung zu finden, um Kreditnehmer von Kreditgebern zu schützen. Stattdessen machen wir das Gegenteil, wir erschaffen den Internationalen Währungsfonds! Wir schaffen diese Institutionen, um Gläubiger vor den Schuldnern zu schützen. Und das resultiert in nichts anderem als der ernsthaftesten Schuldenkrise seit jeher.

Aber sind nicht das größte Problem die Zinsen? Oder genauer gesagt der Zinseszinseffekt? Wäre es also nicht auch eine Lösung, wenn wir uns nicht von den Schulden trennen können, zumindest über die Zinseszinsen nachzudenken?

Das ist genau richtig. Beispielsweise gab es historisch gesehen immer wieder die gesetzlichen Vorgaben, dass, wenn man Zinsen erhebt, die Zinsen den Leihbetrag nicht überschreiten dürfen. Wenn man also 100 Euro verliehen hatte, stoppten die Rückzahlungen, wenn die Zinszahlungen 100 Euro überschreiten. Das war zum Beispiel in China und Indien üblich.

Wenn wir aber heute zum Beispiel über die Schuldenkrise der Dritten Welt sprechen, wird gerne gesagt, sie haben das Geld nicht zurückgezahlt. Natürlich haben sie das, sie haben die Summe drei- oder vierfach zurückgezahlt. Dennoch sind wir wegen des Wunders der Zinseszinsen in einer Situation, wo die Verpflichtungen offensichtlich niemals enden werden. Es wäre auch sehr interessant, den Gesamtbetrag zu kennen, der von Deutschland nach Griechenland floss und die Summe, die umgekehrt von Griechenland nach Deutschland überwiesen wurde. Ich bin sicher, dass Griechenland mehr geliefert hat, als Deutschland jemals gezahlt hat.

Eine Anekdote im Buch dreht sich um den Tauschhandel und um einen Indianerstamm, der statt auf Tauschhandel auf Verteilung setzt, organisiert von Frauen. Hätten wir keine Schuldenkrise, wenn die Frauen die Welt in den vergangenen 5000 Jahren regiert hätten?

Interessante Frage. Hätten wir ein anderes System? Vielleicht. Und vielleicht ein besseres. Es ist eine faszinierende Geschichte. Als Adam Smith sein Beispiel des Tauschhandels wählte, dachte er vielleicht an die nordöstlichen Wälder in Nordamerika und natürlich hatte er keine wirklichen Informationen darüber, wie die Wirtschaft dort funktionierte. Als Anthropologen damit anfingen, und Lewis Henry Morgan, der Mitbegründer der Ethnologie, war einer der ersten von ihnen, haben sie relativ schnell festgestellt, dass die Menschen nie wirklich direkten Tauschhandel miteinander getrieben haben. Stattdessen gab es diese weiblichen Sammler und Verteiler aller Dinge.

Diese Informationen waren so verwirrend und die Idee des Tauschhandels hat sich derart in der Volkswirtschaftslehre etabliert, dass keiner darüber reden wollte. Zu den wenigen, die wirklich begeistert von diesen Ideen waren, gehörten Marx und Engels. Das sei der ursprüngliche Kommunismus, das sei großartig, fanden die beiden

Aber warum haben die Ökonomen nicht darüber nachgedacht? Warum mussten erst die Anthropologen kommen?

Die Anthropologen haben es erklärt und die Ökonomen haben immer noch nicht zugehört, sondern weiter dieselben Sachen gesagt. Anthropologen haben ein hübsches Wort für dieses Phänomen, sie nennen es einen Mythos. Geschichten über etwas, das lange in der Vergangenheit liegt und etwas Fundamentales über das menschliche Wesen und die Beziehungen der Menschen zueinander erzählt, diese Art von Geschichten sind Mythen und jede Art von Gesellschaft hat sie. Und da Wirtschaft ein so wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft ist, gibt es diese Gründungsgeschichte, ein "Es war einmal" über die Wirtschaftsindividuen in diesem Dorf, es ist der Gründungsmythos unserer Zivilisation.

Volkswirte haben ja seit jeher die Angewohnheit, die Welt in immer kleinere Modelle zu packen. Vielleicht haben wir da das eine oder andere vergessen?

Wir haben die Beziehungen der Menschen untereinander vergessen. Um Volkswirtschaft zu erklären, müsste man sich einen Marktplatz vorstellen, wo Fremde sich treffen, und kein anderes Interesse aneinander haben, als "Du hast Fisch und ich habe Weizen" oder "Du hast Kühe und ich habe Hühner", oder was auch immer es sein mag. Natürlich wäre das nur der Fall, wenn sich komplett Fremde auf dem Marktplatz treffen, die sich auch nie wieder sehen werden. Ein eher seltener Fall.

Leute, die sich kennen, würden sich komplett anders verhalten. Ihre Motive sind unendlich kompliziert. Aber die Volkswirte brechen es auf ein so einfaches Level herunter, damit sie daraus eine mathematische Formel machen können. Man muss so tun, als ob sich die Leute gegenseitig komplett gleichgültig als menschliche Wesen sind. Das Heimtückische daran ist, dass die Ökonomen Verhältnisse schaffen können, wo die Menschen sich so behandeln dürfen.

Adam Smith hat den berühmten Satz geprägt: "Es ist nicht das Wohlwollen meines Fleischers, Brauers oder Bäckers, von dem ich mein Abendessen erwarte, sondern von seinem Eigeninteresse." Die Ironie daran ist, dass selbst zu den Zeiten, in denen Adam Smith das geschrieben hat, dieser Satz vollkommen unwahr war. Wenn er zum Fleischer oder Bäcker gegangen ist, wurde fast überall auf Kredit gekauft. Also appellierte man immer an das Wohlwollen des Fleischers oder Bäckers, man hatte eine persönliche Beziehung zu ihnen. Leute, die aus derselben sozialen Klasse wie Adam Smith kamen, die gut gebildete Mittelschicht dieser Tage, hatten aber das Gefühl, dass das nicht so sein sollte, sie fanden, dass das ein Problem war. Also schufen sie eine Welt, in der niemand mit persönlichen Beziehungen diese puren ökonomischen Beziehungen korrumpieren konnte. Diese Welt zu erschaffen, war aber überaus kompliziert. So war die Produktion von Münzen sehr schwierig, es dauerte Hunderte von Jahren, bevor sie die Millionen und Abermillionen von kleinen Metallstückchen mit sich trugen, die nötig waren, damit die Menschen so agieren konnten. Aber es war ein moralisches Projekt. Und indem sie den "Es war einmal"-Geschichte von einer Zeit, in der jeder so agierte schufen, hatten sie einen Mythos, der das Projekt begleitete.

Dieser Mythos macht die Geschichte sehr einfach – bis heute. Das Problem mit der Finanzkrise ist aber doch, dass es überhaupt nicht einfach war. Dennoch gab es nach 2008 keine Aufstände, keine Demonstrationen …

… sie starten jetzt (lacht)

Der deutsche SPD-Politiker Franz Müntefering sagte damals, wir können froh sein, dass die Menschen das Ausmaß der Finanzkrise nicht verstanden haben, denn ansonsten würden sie die Banken stürmen.

Henry Ford hat auch einmal gesagt, wenn der Durchschnittsamerikaner verstehen würde, wie das Bankensystem funktioniert, hätten wir morgen eine Revolution.

Vielleicht hat er recht. Jetzt gibt es Demonstrationen. Glauben Sie, dass diese nun etwas bewirken können, nachdem wir nun schon einige Jahre mit der Krise leben?

Ich erinnere mich, dass unmittelbar nach dem Anfang der Finanzkrise darüber nachgedacht wurde, ob alles, was man bis dahin glaubte, falsch war, man umdenken und anfangen müsse, in größeren Zusammenhängen zu denken und große Fragen zu stellen. Ich erinnere mich an eine Schlagzeile des Wirtschaftsmagazins "Economists", die hieß: "Kapitalismus. War das eine gute Idee?" Alles wurde infrage gestellt.

Dazu die Bilder der Banker, die ihre Habseligkeiten in Kartons aus den Büros trugen …

Exakt! Dieses Gefühl hielt ungefähr drei Wochen an. Danach hieß es nur, weitermachen, weitermachen, es gibt nichts zu sehen, wir werden einfach so tun, als ob nichts passiert wäre. Das ist keine ungewöhnliche Reaktion auf unerwartete Krisen. Ich musste an 9/11 denken, da war es ähnlich. Erst kamen alle zusammen und es gab diese Reflektionen, anti-imperialistische Strömungen und Peace-Zeichen überall. Und dann kam die Regierung und sagte sozusagen: "Ruhe jetzt und geht wieder shoppen." Und wir hatten irgendwie das Gefühl, dass wir das tun müssten.

Danach brauchte es ein paar Jahre, bevor die ganzen Auswirkungen sich ihren Weg gesucht haben- Erste Bewegungen gegen den Militarismus und Krieg formierten sich, bis es eine große Ablehnung des amerikanischen Militarismus gab. Aber es dauert ein paar Jahre.

Sie denken nicht nur über Schulden nach, Sie sind auch einer der Köpfe hinter der "Occupy"-Bewegung.

Ich bin einer von denen, die dort früh involviert war.

Und ein anderes Buch, das in diesen Tagen von Ihnen veröffentlicht wird, ist "Inside Occupy"

Ja, es kam jetzt auf Deutsch heraus, lange bevor es auf Englisch herauskommt. Sie sind der frühe Vogel hier!

Und Sie stehen hinter dem Slogan: "We are the 99%"

Ja, ich war darin involviert, aber es war ein Gemeinschaftswerk. Ich habe den Teil mit den "99%" vorgeschlagen, ein spanisches Pärchen schlug die "We the" vor, und eine Koreanerin fügte das "are" hinzu. Man sagt, dass Dinge, die von einem Komitee geschrieben werden, nicht sehr gut funktionieren, aber in diesem Fall tat es das schon.

Man hat dann eine Weile sehr viel von dieser Bewegung gehört. Aber nun ist es still geworden.

Das liegt daran, dass die Medien aufgehört haben, über uns zu berichten. Aber wir knüpfen enge Kontakte mit Gewerkschaften und Kommunen. Wir gehen in die Breite, wir haben Occupy-Häuser, Occupy-Farmen, es passieren eine Menge Sachen, nur die Medien berichten nicht mehr so ausführlich darüber.

Eines der Probleme für die Berichterstattung ist, dass Occupy keine Forderungen stellt.

Wir haben sehr wissentlich keine Forderungen. Ich glaube, keine Forderungen zu haben, ist eines der Geheimnisse unseres Erfolges. Viele Menschen versuchen, eine Bewegung um spezifische Forderungen aufzubauen, und erreichen damit gar nichts. Ich glaube, was wir erreicht haben, ist das Gefühl zu kanalisieren, das viele Menschen in den USA haben, dass das politische System nicht das repräsentiert, was es vorgibt. Es ist kein demokratisches System, es entspricht nicht den Menschen. Und das ergab die Idee des einen Prozents.

Beide politischen Parteien werden in den USA im Wesentlichen von einem Prozent der Bevölkerung dominiert. Sie repräsentieren verschiedene Fraktionen innerhalb dieses einen Prozents. Aber die Themen, die sie dort diskutieren, wie beispielsweise die Staatsdefizite, haben fast keine Relevanz für 99 Prozent der Bevölkerung. Dieses System eine Demokratie zu nennen, ist absurd, es ist eine institutionalisierte Form von Bestechung. Und indem wir sagen, dass wir nicht mal an sie appellieren werden, etwas zu ändern, lehnen wir das ganze System ab. Ich denke, das ist eine der Gründe, warum sich die Bewegung so rasch verbreitet hat. Viele Menschen haben bereits so gedacht, hatten aber keine Möglichkeit, sich zu artikulieren.

In anderen Ländern, wohin die Occupy-Bewegung übergesprungen ist, lief das aber etwas anders. Beispielsweise hatte man in Israel sehr konkrete Forderungen, wie die Senkung der Lebenshaltungskosten.

Ich glaube, in Israel haben sie ähnliche Themen kritisiert, aber die Leute hatten das Gefühl, dass das politische System gezwungen werden könnte, sich dieser Probleme anzunehmen. In Amerika hatten wir dagegen wirklich das Gefühl, dass unser politische System strukturell unfähig ist, sich mit den Problemen, die die Leute haben, zu beschäftigen.

Gab es also in Israel ein stärkeres Gefühl der Demokratie?

Sie haben ein demokratisches System, sie haben eine kleinere Gesellschaft. Offensichtlich sind zwar einige Leute stärker repräsentiert als andere. Aber es gibt das Gefühl unter diesen Menschen, dass es unter diesen Majoritäten Leute gibt, auf die man zählen kann, auf die man politischen Druck ausüben kann. Ich glaube, in Amerika haben die Menschen schon lange aufgegeben, die meisten von ihnen wählen auch nicht mehr.

Aber gibt es denn eine Idee, welche Art von System funktionieren würde?

Nun, das ist das Problem. In den USA sind viele Leute sehr zynisch und verärgert über das bestehende System, sie haben jedoch keine Idee, wie eine Alternative aussehen könnte. Daher ist die Strategie, die wir verfolgen: Wir sagen, das gegenwärtige System ist kaputt, wir werden es nicht legitimieren, in dem wir sie bitten, sich besser zu benehmen, weil wir nicht glauben, dass sie es wirklich können. Was wir tun wollen, ist ein Modell zu kreieren, das zeigt, wie ein ernsthaftes demokratisches Modell aussehen könnte. Und deshalb verbringen wir beispielsweise so viel Zeit damit, über demokratische Prozesse nachzudenken. Wie gestaltest du ein Meeting, wie verbündest du dich zwischen den Gruppen. Das erscheint alles sehr technisch, wenn man es einem Außenstehenden beschreibt. Aber wenn du es miterlebst, ist es unglaublich aufregend.

Aber könnte es, kein System, aber zumindest eine Gesellschaftsform geben, in der Sie kein Anarchist wären?

Sondern in der jeder Anarchist wäre? (lacht)

Nun, wenn jeder ein Anarchist ist, dann …

Ja, ich weiß nicht. Dann müsste man das Wort nicht mehr benutzen. Ich denke, dass es möglich wäre. Natürlich weiß man das erst, wenn man es ausprobiert. Niemand glaubt, dass es möglich ist, mit 2000 Personen in einem Raum zu sitzen und gemeinsame Entscheidungen zu fällen ohne eine Führungsstruktur. Und wenn man ihnen sagt, dass das möglich ist, ändert es ihren Horizont und ihre Möglichkeiten. Und das ist es, was wir versuchen zu erreichen. Wir wollen ihnen einen Eindruck vermitteln, wie eine freie Gesellschaft ernsthaft aussehen könnte. Und wenn sie mit der Idee weggehen, dass solche Dinge, von denen sie nicht mal geträumt haben, möglich sind, haben sie vielleicht Ideen, von denen wir niemals geträumt haben.

Mir wird gerade gesagt, dass wir das Interview jetzt schnell beenden müssen, es warten noch eine Menge Termine auf Sie …

Ich bin selber keine freie Person. (lacht)

Das Buch heißt: Schulden, die ersten 5000 Jahre. Aber Sie geben darin keine Rezepte, wie man mit den Schulden tatsächlich umgehen soll. Aber wenn Sie einmal träumen dürften, wie würden die nächsten 5000 Jahren aussehen?

Oh, das ist eine lange Zeit.

Na gut, um es kürzer zu halten: in unserer Lebensspanne.

Okay (denkt nach).

Ich würde gerne eine Gesellschaft erleben, mit radikaler Diversifikation, in der die Menschen der Abdeckung ihrer Grundbedürfnisse so sicher sind, dass sie für sich selbst entscheiden können, welchen Werten sie wirklich nachgehen wollen. Ich glaube, dass die Leute mit Sachen ankommen würden, die wir uns kaum vorstellen können. Es gebe Leute, die vor allem sich mit Spaß und Spielen beschäftigen würden, aber wir würden in dieser Welt eine endlose Zahl von Projekten finden.

Um das zu erreichen, müssten wir die Arbeitszeit massiv reduzieren. Ich glaube, es würde uns allen besser gehen, wenn wir maximal 4 Stunden am Tag arbeiten würden, die restliche Zeit würden wir darauf verwenden, unsere Traum-Projekte voranzubringen. Ich bin tatsächlich ziemlich in Technik vernarrt und glaube, dass Kapitalismus einen Bruch im technologischen Fortschritt verursacht hat, er hat uns abgehalten, den Weltraum weiter zu erkunden oder all die großartigen Spielsachen zu erfinden, die wir jetzt schon haben sollten, wie das Hover-Board zum Beispiel, die Mond-Basis.

All die Dinge, die uns in "Zurück in die Zukunft" versprochen worden sind?

Yeah, all diese Art von Sachen. Wir müssen den Kapitalismus loswerden, Kapitalismus wird uns das nicht bringen, wir brauchen ein anderes ökonomisches System. Ich denke, indem man die bestehenden Strukturen zerstört und eine Graswurzel-Demokratie sowie eine Basissicherung für die Leute schafft, so dass sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen und experimentieren können. Ich würde gerne sehen, was daraus entsteht.

Klingt faszinierend.

Here we go. Dann lass uns das machen.

Mit David Graeber sprach Samira Lazarovic

Quelle: ntv.de

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